„Das größte Pflege-Reformpaket der vergangenen Jahrzehnte“ verkündete die Bundesregierung am Internationalen Tag der Pflege, dem 12. Mai, vergangenen Jahres. Just ein paar Stunden bevor Tausende Menschen dem Aufruf der Gewerkschaftsbewegung folgten und österreichweit zu Demos für gute Arbeit und faire Bezahlung im Gesundheitsbereich zusammenkamen. Die Regierung versprach eine Milliarde Euro zusätzlich bis zum Ende der Gesetzgebungsperiode aufzuwenden, um die Situation für die Menschen, die in der Pflege arbeiten, zu verbessern. AKtuell hat nachgefragt, wie die versprochenen Maßnahmen wirken und was fehlt.
Gerald Mjka, Gewerkschaft vida
Mehr Gehalt für jede:n einzelne:n Beschäftigte:n in der Pflege stellte die Regierung in Aussicht. Versprochen wurde ein Pflegebonus für Vollzeitkräfte von rund 2.000 Euro, befristet für die Jahre 2022 und 2023. „Die Beschäftigten haben erwartet, 2.000 Euro netto zu bekommen. Doch erst kam gar nichts und dann viel weniger als gedacht bei den einzelnen Beschäftigten an, weil es sich um eine Brutto-Zahlung handelt. Die Abwicklung erfolgte je nach Bundesland anders“, erinnert sich Silvia Rosoli, Leiterin der Abteilung Gesundheitsberufe und Pflegepolitik in der AK Wien. Für 2022 wurde der Pflegebonus rückwirkend einmalig ausbezahlt, seit heuer erhalten die Beschäftigten in der Pflege den Bonus monatlich. Für Vollzeitbeschäftigte macht das knapp 140 Euro brutto aus - sofern sie den Bonus überhaupt erhalten.
„Viele Berufsgruppen schauen beim Pflegebonus durch die Finger. Das treibt einen Spalt zwischen die Beschäftigten. Dabei leisten alle ihren Beitrag“, kritisiert Hannes Wölflingseder, Vorsitzender des Betriebsrats im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Wien. „Wieder einmal vergessen wurden beim Pflegebonus auch die Hebammen und die Beschäftigten in den medizinischen, therapeutischen und diagnostischen Gesundheitsberufen (MTDG)“, kritisiert Andrea Wadsack, Vorsitzende des Personalgruppenausschusses MTDG in der Hauptgruppe 2 der Gewerkschaft Younion.
Auch viele weitere Gruppen, darunter die medizinischen Assistenzberufe (DMTF/MAB) oder die Beschäftigten im niedergelassenen Bereich, gingen leer aus. Gerald Mjka, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft vida, stellt klar: „Alle Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialbereich sollen den Bonus bekommen, auch der OP-Assistent und die Behindertenbetreuerin.“
Angesichts der eklatanten Belastungen, denen die Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitsbereich ausgesetzt sind, müsse der Pflegebonus auch in den Folgejahren ausbezahlt werden, setzt Mjka nach.
Eine zusätzliche Entlastungswoche für Menschen ab dem 43. Lebensjahr versprach die Regierung als weitere Maßnahme. Herausgekommen ist eine Mogelpackung. „Es steckt schon im Namen ‚Entlastungswoche‘, dass die Beschäftigten belastet, wenn nicht gar ‚überlastet‘ sind. Leider zeigte sich die Regierung großzügig beim Ankündigen, geizig beim Umsetzen“, sagt Mjka.
Zum einen wurde wieder eine Reihe von Berufsgruppen ausgegrenzt. Zum anderen darf die Entlastungswoche bei jenen, die unter die Regelung fallen, mit bestehenden Bestimmungen über eine sechste Urlaubswoche gegenverrechnet werden. Beschäftigte, die bereits durch Gesetz, Kollektivvertrag, Betriebs- oder Einzelvereinbarung eine sechste Urlaubswoche haben, erhalten keine zusätzliche Entlastungswoche. Einzig Nachtgutstunden, die durch das Ableisten von Nachtdiensten erworben wurden, dürfen derzeit nicht durch die Entlastungswoche aufgesogen werden.
„Zwei von fünf Beschäftigten aus den Gesundheits- und Sozialberufen erwägen mittlerweile einen Berufswechsel. Die Ausstiegstendenzen sind in den vergangenen Jahren massiv gestiegen“, verweist AK-Expertin Silvia Rosoli auf die Ergebnisse einer österreichweiten Umfrage, an der sich mehr als 7.000 Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen und der Langzeitpflege beteiligt haben. Besonders jüngere Arbeitnehmer:innen, Beschäftigte, die laufend Mehrarbeit verrichten müssen und Beschäftigte aus den Assistenzberufen fühlen sich massiv psychisch beeinträchtigt. „Alle Beschäftigten, die im Gesundheitsbereich, in der Langzeitpflege oder im Sozialwesen arbeiten, sollen eine zusätzliche Urlaubswoche erhalten – und das unabhängig vom Alter“, sagt Rosoli.
Andrea Wadsack, Younion
Verbesserungen bei der Pflegeausbildung wurden ebenfalls im Pflege-Reformpaket der Regierung angekündigt. Doch die Regierung versteht darunter offenbar eher die Förderung von Schmalspurausbildungen, anstatt gemeinsam mit den Bundesländern für ausreichend Plätze im qualifizierten Bereich zu sorgen.
„Obwohl alle Expert:innen gegen eine Pflegelehre sind, besteht die Regierung auf Einführung eines Lehrberufs. In den Schulen für Gesundheits- und Krankenpflege kann man aus gutem Grund eine Ausbildung erst ab 17 beginnen, eine Pflegelehre passt nicht in das System. Genauso wenig wie man bei der Polizei ab 15 eine Lehre absolvieren kann“, sagt Rosoli. Weiters verschärfe die Pflegelehre den Personalmangel in den Betrieben. Denn die Begleitung von Lehrlingen, deren Ausbildung hauptsächlich im Betrieb erfolgt, benötige wesentlich mehr Zeit als die Anleitung von Schüler:innen und Studierenden, die Praktika absolvieren. Positiv ist, dass die Modelle für die Pflegeausbildung an berufsbildenden Schulen (BMS/BHS-Modell) nun in das Regelschulmodell übernommen und ausgebaut werden. „Damit gibt es ein gutes Angebot für junge Menschen direkt nach Abschluss der Pflichtschule. Das haben die Gewerkschaften und die AK nachdrücklich gefordert“, so Rosoli.
Zumindest 76.000 Arbeitskräfte in den Pflegeberufen braucht Österreich bis 2030 zusätzlich, um eine Versorgung auf gegenwärtigem Niveau sicherzustellen, ergibt eine Studie der Gesundheit Österreich GmbH. „Weit mehr als die Hälfte davon muss über eine Ausbildung auf dem Niveau des Diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegepersonals verfügen“, weiß Rosoli. Wie diese Zahl erreicht werden kann? „Indem mehr Ausbildungsplätze auf den Fachhochschulen angeboten und die Durchlässigkeit von Pflegeassistenzberufen in den gehobenen Dienst massiv gefördert werden.“
Wesentlich mehr Arbeitskräfte nötig sind laut Studien auch in den weiteren Gesundheitsberufen. Für die MTD-Berufe wird ein Mehrbedarf von 18.000 Vollzeitkräften prognostiziert, bei den Hebammen geht es um 1.500 Vollzeitstellen zusätzlich. „Der Wiener Gesundheitsverbund hat in Kooperation mit dem FH Campus Wien zusätzliche Studienplätze für Hebammen eingezogen und die Plätze an den Fachhochschulen für die MTD-Berufe ausgeweitet“, so Wadsack. Andere Bundesländer sollten nachziehen, um die Versorgung über 2030 hinaus zu sichern. Zusätzlich müssen die Arbeitsbedingungen auch für die Beschäftigten in den medizinischen, therapeutischen und diagnostischen Gesundheitsberufen verbessert werden, um eine höhere Fluktuation zu verhindern. Dies gelte insbesondere für die Bereiche Radiologie und Labor, die 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche gebraucht werden, meint Andrea Wadsack.
Es ist ein Kreislauf, der schwer zu durchbrechen ist. Die Alterung der Gesellschaft führt zu einem massiv erhöhten Personalbedarf im Sozial- und Gesundheitsbereich. (Über-) Fordernde Arbeitsbedingungen führen dazu, dass viele – auch junge Arbeitskräfte – den Spitälern den Rücken kehren oder maximal Teilzeit arbeiten; sofern sie nicht überhaupt den Beruf wechseln.