„Rund die Hälfte der Handelsbeschäftigten gilt als systemrelevant. Es reicht nicht aus, für sie zu klatschen. Sie verdienen dauerhafte Anerkennung – faire Arbeitsbedingungen, angemessene Bezahlung und die Einhaltung von geltendem Arbeitsrecht“, ist AK Präsidentin Renate Anderl überzeugt.
Die COVID-19-Pandemie hat den Handel 2020 vor enorme Herausforderungen gestellt. Und auch mit der aktuellen Teuerung geht es so weiter. Eine von der AK beauftragte Studie von Wifo und IFES analysierte die „Lage der Beschäftigten im Handel“ zwischen 2010 und 2022. Das Fazit: Der Druck auf die Beschäftigten durch die Auswirkungen der Pandemie ist hoch. Kein Wunder, dass die Arbeitsunzufriedenheit deutlich zurückgegangen ist. Jede:r Zehnte im Handel gibt an, dass das Einkommen nicht ausreicht.
Martin Müllauer, GPA
Der Mangel an Arbeitskräften spitzt sich zu. Derzeit gibt es über 20.000 offene Stellen im Handel. Viele Lehrstellen bleiben unbesetzt. Besonders der Lebensmitteleinzelhandel sucht nach Personal. Im Einzelhandel arbeitet jede zweite Arbeitskraft in Teilzeit, in der Mehrzahl Frauen und Personen mit Betreuungspflichten. Gerade im Handel ist der Frauenanteil mit 58 Prozent deutlich größer als in anderen Branchen. „Der Handel ist nicht unbedingt familienfreundlich. Die Attraktivität des Handels ist aufgrund der Arbeitszeiten oft nicht gegeben. Deshalb fordern wir, der Personalknappheit entgegenzuwirken“, sagt der GPA-Vorsitzende des Wirtschaftsbereichs Handel und Betriebsrat, Martin Müllauer. Dafür brauche es bessere Arbeitsbedingungen für Handelsbeschäftigte, insbesondere mehr Arbeitszeitqualität.
„Planbare Arbeitszeiten, die Einführung von 5- statt 6-Tage-Wochen und die sechste Urlaubswoche als ‚Zuckerl’ sind das, was die Beschäftigten brauchen. Das würde dazu beitragen, dass sich Menschen leichter entscheiden, ein Jobangebot aus einem Handelsbetrieb anzunehmen. Wilde Attacken gegen die Beschäftigten im Handel, wie Handelsverband-Geschäftsführer Rainer Will das kürzlich machte, sind aufs schärfste zurückzuweisen und tragen – so wie geteilte Dienste und Arbeit bis mitunter 21 Uhr – nicht zur Attraktivität des Handels bei."
Die IFES-Studie zeigt: Handelsbeschäftigte wünschen sich die Achtung ihrer Rechte durch den Arbeitgeber. „Im Kollektivvertrag stehen immer gewisse schöne Dinge, aber in der Realität sieht das anders aus“, so Martin Müllauer, der Betriebsratsvorsitzender von Morawa Bucheinzelhandel ist. Er verweist auf die Schwarz-Weiß-Regelung, die vorsieht, dass Handelsangestellte jeden zweiten Samstag frei haben müssen. Beim aktuellen Personalmangel ist die Realität eine andere. Beschäftigte hören immer wieder: ‚Kannst du am Samstag einspringen?’ Müllauer: „Viele machen aus Kollegialität einen dritten Samstagsdienst, obwohl sie es rechtlich nicht dürfen. Die Kollegialität ist aber auch etwas, wo der Arbeitgeber die Kolleg:innen oft ausspielt.“
Besonders aus dem Lebensmittelhandel berichten Betriebsrät:innen häufig, dass von Beschäftigten erwartet wird, laufend Überstunden zu machen und kurzfristig einzuspringen. Mehr als zwei Drittel spürt über die letzten zwei Jahre einen immer größer werdenden Druck. „Wie hoch der Druck auf die Handelsbeschäftigten ist, zeigt sich auch an der hohen Anzahl an Anfragen in unserer Arbeitsrechtsberatung“, sagt Renate Anderl. Die Differenz zwischen Wunscharbeitszeit und tatsächlich geleisteter Arbeitszeit wird immer größer: Immer mehr Vollzeitarbeitskräfte wollen weniger arbeiten als noch vor der Pandemie.
„Was die Beschäftigten jeden Tag von A nach B schleppen, ist ein Irrsinn. Je älter sie sind, desto schwieriger ist es, gewisse körperliche Leistung zu bringen“, so Martin Müllauer. Schlechte Gesundheitsbedingungen sind vor allem im KFZ-Bereich zu beobachten. Laut der Studie von Wifo und IFES haben gesundheitliche Belastungen zugenommen, vor allem durch schwere körperliche Anstrengung, langes Stehen und künstliches Licht. Handelsbeschäftigte leiden oft an Schmerzen im Rücken und in den Beinen sowie an Ermüdungserscheinungen. Psychischer Stress, Nicht-Abschalten-Können und Depressivität steigen im Handel höher als in anderen Branchen.
Alle Details zu den Studienergebnissen findest du hier.
Renate Anderl, AK Präsidentin
Häufig üblich ist im Handel: Die Beschäftigten arbeiten ein paar Stunden, dann folgt eine lange unbezahlte Pause, dann wird noch einmal ein paar Stunden gearbeitet. „Am liebsten wäre es manchen Unternehmen, dass die Leute brav auf Abruf wären. Nach dem Motto: Jetzt kommen auf einmal zehn Kund:innen, schau, dass du in einer Stunde da bist“, betont der Gewerkschafter. Der Personalmangel führt auch dazu, dass Beschäftigte immer häufiger krank arbeiten gehen. 2021 haben Handelsmitarbeiter:innen im Schnitt 11,8 Tage krank gearbeitet, um ihre Kolleg:innen nicht im Stich zu lassen.
Die AK und GPA fordern planbarere Arbeitszeiten sowie eine 5-Tage-Woche, statt der häufig üblichen 6-Tage-Woche. Betriebe seien hier gefragt, die Öffnungs- und Arbeitszeiten anzupassen, um Arbeits- und Privatleben besser zu vereinbaren. Oft werden die gesetzlich vorgeschriebenen Vorankündigungszeiten von 14 Tagen bei der Diensteinteilung nicht eingehalten. Martin Müllauer verlangt eine einvernehmliche Dienstplanerstellung: „Die meisten bekommen ihren Dienstplan einfach hingelegt. Dienstpläne werden theoretisch gemacht, aber praktisch nicht eingehalten. Wenn ich heute nicht weiß, wie ich morgen arbeite, kann ich mein Leben nicht planen.“
Handelsangestellte bewerten ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten schlechter als andere Branchen. „Jeder Betriebsrat sollte Mitbestimmungsrechte im Handel einfordern. Als Betriebsrat muss man oft lästig sein und Mut haben. Ganz wichtig ist es, den Kolleg:innen auch bei psychischen Belastungen zuzuhören “, so der Gewerkschafter. Gerade bei psychischen Belastungen sollten Beschäftigte den Betriebsrat involvieren. Zudem rät Müllauer den Beschäftigten bei bestimmten Ereignissen, wie einseitigen Dienstplanänderungen oder Mobbing, ein Gedächtnisprotokoll zu schreiben, „denn auch als Betriebsrat kannst du nicht immer überall sein.“
Positiv beurteilt der Vorsitzende des Wirtschaftsbereichs Handels den Kollektivvertragsabschluss für die Handelsangestellten, den die GPA nach zähem Ringen mit den Arbeitgeber:innen erreichen konnte. Der Kollektivvertrag, der mit Jahresanfang in Kraft trat, brachte den Handelsangestellten eine Erhöhung von rund sieben Prozent. Die nachhaltige Erhöhung der Gehälter sei gerade angesichts der Teuerung wichtig. „Je höhere Gehälter wir im Kollektivvertrag haben, desto höher auch die Einzahlungen ins Pensionssystem. Und das ist für die Beschäftigten auch langfristig wichtig.“ Weiter im Fokus bleibt, dass auch die Einstiegsgehälter im Handel auf über 2.000 Euro angehoben werden, so Müllauer abschließend.
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