Kein Arzt, keine Ärztin verbringt so viel Zeit bei den Patient:innen wie wir“, sagt Ella Stadlmair. Sie hat ihr FH-Studium Gesundheits- und Krankenpflege vor zwei Jahren abgeschlossen und arbeitet in der Zentralen Notaufnahme der Klinik Floridsdorf. „Dabei zu sein, wenn Leben gerettet ist, das ist unbeschreiblich“, erzählt die junge Wienerin. Sie berichtet aber auch von den belastenden Arbeitsbedingungen. Sie führen dazu, dass viele Beschäftigte auf Teilzeit reduzieren – sofern sie der Branche nicht gar den Rücken kehren.
Zumindest 76.000 Arbeitskräfte in den Pflegeberufen braucht Österreich bis 2030 zusätzlich, um eine Versorgung auf gegenwärtigem Niveau sicherzustellen. Das ergibt eine Studie der Gesundheit Österreich GmbH. Mehr Arbeitskräfte ausbilden lautet daher ein wichtiger Ansatz. Der Wiener Gesundheitsverbund (WIGEV) hat in Kooperation mit der Fachhochschule Campus Wien die Ausbildungsplätze verdoppelt. Gesundheitsstadtrat Hacker erklärte kürzlich, er rechne damit, dass diese Maßnahme ab 2025 in den Spitälern spürbar sein werde.
„Ja“ zu mehr Ausbildungsplätzen sagen auch die Gewerkschaften. Doch das allein reicht nicht. Sarah Kroboth ist Referentin für Alle in Ausbildung in der Hauptgruppe II der Gewerkschaft younion, die die Beschäftigten im WIGEV vertritt. Sie sieht Verbesserungsbedarf bei der Ausbildungsprämie, die nur 600 Euro monatlich beträgt: „Damit können viele nicht einmal die Miete bezahlen.“ Quereinsteiger:innen, die zuvor erwerbstätig waren, bekommen während der Ausbildung rund 1.400 Euro. Auch damit kommt man angesichts der Teuerung schwer über die Runden. „Es braucht für alle eine die Existenz sichernde Entschädigung“, verlangt Kroboth.
„Wenn mehr Auszubildende da sind, kann man nicht bei den Praxisanleiter:innen in den Spitälern mit gleichbleibendem Zeit- und Personalaufwand kalkulieren. Das verstärkt den Stress“, zeigt Edgar Martin, Vorsitzender der Hauptgruppe II in der Gewerkschaft younion, eine weitere Lücke auf. Schließlich seien die Arbeitsbedingungen der wichtigste Faktor – auch um die vorhandenen Mitarbeiter:innen zu halten. Beschäftigte aus anderen Ländern anzuwerben sei ein Versuch der Arbeitgeber, die Notsituation zu lindern. Eine weitere Maßnahme, die der WIGEV ergriffen hat, ist die Einführung einer Einspringer-Prämie für Pflegepersonen, die bereit sind, in definierten Hotspot-Bereichen Zusatzdienste zu leisten. Das sei sinnvoller, als kurzfristig Beschäftigte aus einer Abteilung in eine andere abzuziehen. „Das, was viele motiviert, in die Arbeit zu gehen, ist der Zusammenhalt im Team. Gibt es den nicht, steigen noch mehr aus“, so Martin.
Apropos Zusammenhalt: Mit dem „Pflegepaket“ führte die Regierung vergangenes Jahr einen Pflegebonus und eine Entlastungswoche für alle ab 43 ein. Doch nicht alle profitieren davon, was für Unmut sorgt. Hebammen, OP-Assistent:innen, die Mitarbeiter:innen in den Medizinischen, Therapeutischen und Diagnostischen Gesundheitsberufen und viele andere schauen durch die Finger. „Alle sind von der Überlastung betroffen. Allen Beschäftigten sollten diese Maßnahmen zugutekommen“, verlangt Martin.
„Wir haben schon vor der Corona-Pandemie gewarnt, dass wir chronisch unterbesetzt sind“, erinnert Gerald Mjka, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft vida. „Die Verantwortlichen haben das weggewischt. Heute zeigen sie sich von der Misere überrascht.“ Mjka, der auch Betriebsratsvorsitzender im Krankenhaus Göttlicher Heiland ist, verlangt einen gesetzlich vorgegebenen bundesweiten Schlüssel, der den Personalbedarf verbindlich vorgibt und Sanktionen bei Nichteinhaltung vorsieht. „Derzeit hat es keine Folgen für den Arbeitgeber, wenn nicht genug Personal da ist. Man lässt die Beschäftigten mit der Situation allein“, kritisiert er.
Hier findest du ein Plädoyer für eine Ausbildungsreform zum Download.
Was tun in dieser schwierigen Situation? „Die Belastungen verringern“, sagt Gerald Mjka. Er tritt für eine generelle Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich ein. Edgar Martin nennt einen Schritt, der für die Mitarbeiter:innen im WIGEV die Arbeitszeit verringern würde: Feiertage sollten künftig die Sollarbeitszeit reduzieren. Dadurch würden die Beschäftigten rund zehn freie Tage im Jahr gewinnen. „Vollzeit in der Pflege, das ist Hardcore“, bestätigt Ella Stadlmair.
Verbesserungen sind unumgänglich. Und sie kosten Geld. Derzeit wird in den Finanzausgleichsverhandlungen darum gerungen, wieviel Geld den Ländern und Gemeinden ab 2024 für die Bereiche Gesundheit und Pflege zur Verfügung steht. „Es wird nicht ausreichen, nur bestehende Maßnahmen aus dem Pflegepaket weiter zu finanzieren“, sagt Martin. Mjka legt nach: „Wir messen die Ergebnisse daran, ob sie spürbare Verbesserungen für die Beschäftigten und die Patient:innen bringen.“
Im Gesundheitssystem gibt es noch viele weitere „Baustellen“. Kürzlich haben die Rettungs- und Notfallsanitäter:innen auf ihre prekäre Lage aufmerksam gemacht. Der Grund: Die Einsätze sind stark angestiegen, insbesondere in der Nacht, die Belastungen werden laufend mehr. „Wenn die Feuerwehr ausrückt, sind wir mit vor Ort“, sagt Sylvia Gassner, Vorsitzende des Fachbereichs Soziale Dienste in der Gewerkschaft vida und Betriebsratsvorsitzende beim Roten Kreuz Graz Stadt.
Während die Beschäftigten der Feuerwehren unter das Nachtschwerarbeitsgesetz fallen und damit früher in Pension gehen können, gilt das für die hauptberuflichen „Sanis“ nicht. Sie gelten als Hilfsarbeiter:innen, haben keinen Berufsschutz, keinerlei Aufstiegsperspektive. Ihre Forderungen: Eine bessere Ausbildung, die die Durchlässigkeit zu anderen Gesundheitsberufen sichert, die Aufnahme ins Gesundheitsberuferegister und vor allem in das Nachtschwerarbeitsgesetz.
Ob die Politik die Forderungen aufgreift, ist offen. Mit einer Bürgerinitiative, die bislang von mehr als 5.000 Menschen unterzeichnet wurde, haben Gassner und ihre Mitstreiter:innen aber zumindest das Parlament dazu gebracht, sich mit ihren Anliegen zu befassen.
Jetzt unterzeichnen:
Die Bürgerinitiative der Initiative „Zukunft Rettungsdienst“ zur Aufnahme der Rettungs- und Notfallsanitäter:innen in das Nachtschwerarbeitsgesetz wird derzeit im Parlament behandelt. Parallel dazu kann man die Bürgerinitiative weiterhin hier unterzeichnen.