Damit hatte sie in ihrem Leben nicht mehr gerechnet. Dass sie noch einmal ein Dienstzeugnis brauchen würde, mit 58 Jahren. Eigentlich wollte Martina Pölz dort in Pension gehen, wo sie 40 Jahre lang arbeitete: am Empfang der Kika/Leiner-Geschäftsstelle in St. Pölten. Dort, wo sie täglich jeden begrüßte und jede persönliche Geschichte kannte. Wo sie 25 Jahre als Betriebsrätin im Einsatz war. Doch es kam anders.
Der einstige Marktführer im Möbelhandel meldete im November 2024 Insolvenz an, drei Monate später schloss die Möbelkette ihre letzten Pforten. Endgültig. Betroffen: 1.300 Arbeitnehmer:innen. Der Schock darüber sitzt tief. „Bis zum Ende hat keiner von uns glauben können, dass Schluss ist. Wahrscheinlich heute noch nicht.“ Pölz schluckt. Mit dem Ende des österreichischen Traditionsunternehmens scheint für sie nicht nur ein Job verloren gegangen zu sein. Wer ihr zuhört, erfährt von einem Arbeitsumfeld in familiärer Stimmung, von Zusammenhalt unter Kolleg:innen und von viel Trauer, Wut und Enttäuschung zuletzt.
Auch am Rathausplatz in St. Pölten wird diese emotionale Verbundenheit sichtbar. Vor 115 Jahren hatte der „Leiner-Moment“ hier seinen Ursprung und drei weiße Gänse wurden zum Markensymbol einer österreichischen Erfolgsgeschichte. Ein Abschiedsbrief klebt an den Schaufenstern des einstigen Bettwarengeschäfts und rührt die Stadt: „Wir suchten damals einen Job und fanden eine große Familie und Freunde! Vielen Dank und Auf Wiedersehen! Ihre ehemalige Belegschaft von Kika und Leiner.“
„Bis zum Ende hat keiner von uns glauben können, dass Schluss ist.“
Martina Pölz, AK NÖ, war Betriebsrätin bei Kika/Leiner
Die Kika/Leiner-Insolvenz ist eine von 7.085 Insolvenzen im letzten Jahr in Österreich. In über 3.000 Fällen waren davon auch Arbeitnehmer:innen betroffen. „Wir erleben aktuell eine regelrechte Insolvenzwelle“, erklärt Daniel Holzer, Jurist in der Abteilung Insolvenzschutz der AK Wien. „Viele traditionelle, aber auch neue Betriebe haben Schwierigkeiten, zahlungsfähig zu bleiben.“ Ist die Liquidität eines Unternehmens nicht mehr gegeben, kommt es in Folge meist zu einer Insolvenz. Das bedeutet, dass vom Gericht ein:e Insolvenzverwalter:in bestellt wird, um etwa zu eruieren: Wie viel Geld ist vorhanden, wie viele Schulden bestehen und ist eine Sanierung möglich – oder wird das Unternehmen geschlossen und vorhandenes Vermögen auf die Gläubiger:innen aufgeteilt.
Martina Pölz kannte das Prozedere schon. Immerhin war Kika/Leiner schon einmal insolvent, damals, im Jahr 2023, wurden 23 Filialen geschlossen. Die gesamte Unternehmenshistorie liest sich turbulent – vor allem seit der Signa-Übernahme durch René Benko. „Wir haben ja mehrere Betriebübergaben überstanden, also dachten wir: Auch das überleben wir.“ Der Schock über das endgültige Aus sei dann „einfach hardcore“ gewesen. „Wir haben alles gegeben, viele sind sogar mit ihren Stunden runtergegangen.“ Doch die Warnzeichen waren da – Pölz hat sie hautnah mitbekommen. „Wir mussten zum Schluss Bestellungen wie neue Druckertoner oder Briefkuverts freigeben, andere Dinge wurden total gesperrt. In der Postabteilung habe ich selbst die offenen Rechnungen, Mahnungen und Inkassoschreiben gesehen.“
„Im Handel zählen wachsende Lagerstände oder wenig Verkauf zu den Warnzeichen einer Insolvenz.“
Jacqueline Mayerhofer, Referentin in der Abteilung Betriebswirtschaft der AK Wien
Für AK Referentin Jacqueline Mayerhofer sind das typische Frühwarnzeichen einer drohenden Insolvenz. Die Wirtschaftspädagogin arbeitet in der Abteilung Betriebswirtschaft der AK Wien und bietet Betriebsrät:innen eine kostenlose Analyse des Jahresabschlusses ihres Unternehmens. „Bei diesem ,Gesundheitscheck‘ können Umsatzeinbrüche oder schrumpfende Gewinne bereits auf eine wirtschaftliche Verschlechterung hinweisen.“ Eine Insolvenz kommt selten aus dem Nichts. „Gerade im Handel zählen wachsende Lagerstände oder wenig Verkauf zu den Warnzeichen.“ Spätestens, wenn Gehälter nicht mehr pünktlich ausbezahlt werden, sollte man alarmiert sein.
Doch was passiert mit dem Geld der Arbeitnehmer:innen im Insolvenzfall? „Sobald es dazu kommt, treten wir als Arbeiterkammer proaktiv mit den Arbeitnehmer:innen in Kontakt, beraten sie und machen Ansprüche geltend“, erklärt AK Insolvenzschutz-Experte Holzer. Arbeitnehmer:innen sind in Österreich weitgehend abgesichert. Sie können ihr Geld bei der IEF-Service GmbH fordern.
Der Insolvenz-Entgelt-Fonds wird überwiegend durch Beiträge der Arbeitgeber finanziert. Doch so einfach kommt es nicht zur Auszahlung durch die Behörde, weiß der Experte. Der Insolvenzschutz der AK springt hier helfend ein und übernimmt die kostenlose Vertretung. Das passiert im Rahmen des Insolvenzschutzverbands (ISA), einem gemeinsamen Verein der Arbeiterkammern und des ÖGB, der 1997 extra dafür gegründet wurde.
2024 hat der ISA österreichweit 32.492 Arbeitnehmer:innen vertreten und die Auszahlung von rund 267 Millionen Euro erwirkt. Das bedeutet auch für Gerichte und die IEF-Service GmbH eine enorme Erleichterung. „Ein österreichisches Erfolgsmodell! Bei Vorträgen werden deutsche Verwalter:innen immer ganz neidisch“, weiß das Team der Insolvenzschutzabteilung der AK Wien. Der ISA vertritt etwa 96 Prozent der betroffenen Beschäftigten.
Du erreichst das ISA-Büro der AK Wien per E-Mail unter: isa@akwien.at
Im Fall von Kika/Leiner wurde sogar ein eigenes ISA-Büro am Standort in St. Pölten zur Verfügung gestellt. Dadurch war die Arbeitnehmer:innenvertretung vor Ort greifbar. „Gerade die Zusammenarbeit zwischen der AK Niederösterreich und dem Betriebsrat verlief hier außerordentlich gut“, lobt Holzer und erklärt: „In der Praxis macht ein eingerichteter Betriebsrat einen enormen Unterschied. Weil er für Orientierung im Ausnahmezustand sorgt.“
Gerade am Anfang kann der Betriebsrat die die drängendsten Fragen und Sorgen aus der Belegschaft für die Expert:innen der AK sammeln und als Sprachrohr rasche Aufklärung bewirken: Was bedeutet die Insolvenz? Muss ich noch zur Arbeit kommen? Was passiert mit meinem Geld? Immerhin hat eine Insolvenzeröffnung keinerlei Auswirkung auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses. Im Gegenteil: Wer nicht mehr zur Arbeit kommt, könnte entlassen werden.
„In der Praxis macht ein eingerichteter Betriebsrat einen enormen Unterschied. Weil er für Orientierung im Ausnahmezustand sorgt.“
Daniel Holzer, Jurist in der Abteilung Insolvenzschutz der AK Wien
Zusätzlich hat der Betriebsrat als Kontrollorgan die rechtlichen Möglichkeiten, wichtige Informationen zu beschaffen. „Je besser Daten zugänglich und vorbereitet sind, je besser eine Lohnverrechnung geführt und laufende Aufzeichnungen gemacht werden, umso besser können wir unsere Arbeit machen“, erklärt Holzer. Das heißt, umso schneller kann es zu Auszahlungen kommen. Der Betriebsrat wird hier zum Beschleunigungsfaktor. Gerade im Handel, wo viele alleinerziehende Frauen in Teilzeitbeschäftigung arbeiten, kann ein Gehaltsausfall durch einen insolventen Arbeitgeber existenzbedrohend sein. Bei Kika/Leiner lag der Frauenanteil bei 55 Prozent.
Martina Pölz war während der Insolvenzphase rund um die Uhr im Einsatz. Sie kümmerte sich als Informationsquelle, als Kontaktvermittlerin und natürlich als Trostspenderin. Denn eine Insolvenz löst bei den Betroffenen vor allem eines aus: Angst um die Zukunft. „Schlimm war es, wenn langjährige Kolleg:innen mich fragten: Martina, wer wird mich noch brauchen?“ Für die eigenen Existenzängste blieb da keine Zeit.
Doch sie hatte Glück. Seit Anfang März geht es für Martina Pölz in der AK Niederösterreich weiter – dafür ist sie dankbar. „Ich hätte für meinen alten Job alles getan“, erklärt sie. „Ohne diese neue Chance wäre ich in ein Loch gefallen.“