„Das größte Pflege-Reformpaket der vergangenen Jahrzehnte“ verkündete die Bundesregierung am Internationalen Tag der Pflege, dem 12. Mai, vergangenen Jahres. Die Regierung versprach eine Milliarde Euro zusätzlich bis zum Ende der Gesetzgebungsperiode aufzuwenden, um die Situation zu verbessern. Doch im Gesundheitsbereich kracht und knirscht es. Was fehlt? Ein „ganz normaler Arbeitsalltag“, ohne Unterbesetzung, Einspringen oder Überstunden, klagen die Beschäftigten.
Hannes Wölfingseder, Betriebsrat
„Immer wieder kommen Kolleg:innen am Heimweg drauf, was sie alles nicht gemacht haben – einfach, weil auf der Station so viel los war. Das ist schlecht für die Patient:innen und belastet auch die Beschäftigten immens“, erzählt Hannes Wölflingseder, Betriebsratsvorsitzender im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Wien. Ergebnisse der „Misscare-Austria“ Studie, an der österreichweit mehr als tausend Beschäftigte teilnahmen, bestätigen dieses Bild. 84 Prozent der Befragten gaben bei der Studie an, dass in ihrem Team in den letzten zwei Wochen mindestens eine Pflegetätigkeit oft oder sehr oft weggelassen wurde oder die Tätigkeit mit einer Verzögerung durchgeführt wurde, die für die Sicherheit der Patient:innen nachteilig war. Der Grund? Mehr als zwei Drittel der Befragten sagt, dass die Personalbesetzung in der Pflege in den letzten drei Monaten selten oder nie angemessen war.
Auch bei den Hebammen und den medizinisch, diagnostischen und therapeutischen Berufen (MTD) arbeiten viele Beschäftigte längst am oder über dem Limit. „Es gibt Beschäftigte, deren Urlaubs-, Über- und Nachtgutstunden eine derartige Höhe erreicht haben, dass es aussichtslos erscheint, diese unter dem bestehenden Personalmangel jemals abbauen zu können“, schildert die Vorsitzende des Personalgruppenausschusses für die MTD-Berufe in der Hauptgruppe 2 der Gewerkschaft Younion, Andrea Wadsack, die Situation. Besonders angespannt sei die Lage bei den Radiotechnolog:innen, den Biomedizinischen Analytiker:innen und den Hebammen.
„Babys kommen auch nachts und am Wochenende zur Welt, bei einem Kreißsaal kann man nicht die Öffnungszeiten reduzieren“, so Wadsack. „Bei den Hebammen gibt es keine 1 zu 1 Versorgung bei der Geburt, eine Hebamme ist für mehrere Gebärende gleichzeitig zuständig. Zur Vor- und Nachbetreuung der Mütter außerhalb des Kreißsaals bleibt viel zu wenig Zeit“, so Wadsack. Von ausreichend hoch qualifiziertem Gesundheitspersonal, um überhaupt präventive Gesundheitsvorsorge betreiben zu können, sei Österreich leider weit entfernt.
„Wir brauchen einen bundesweiten Schlüssel, der den Personalbedarf vorgibt und der auch sanktionierbar ist“, wünscht sich Betriebsrat Hannes Wölflingseder. Als einen spannenden Ansatz sieht er den Tarifvertrag öffentlicher Dienst in Berlin, in dem seit 2015 ein Mindestbedarfsschlüssel verankert ist. „Bei einer Unterbesetzung, die unter dem vorgegebenen Personalschlüssel liegt, bekommen die betroffenen Beschäftigten als Ausgleich Freizeit“, erzählt der Betriebsrat. Um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und mehr Menschen für die Arbeit im Gesundheits- und Sozialbereich zu gewinnen, brauche es zudem eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich.
„Die meisten Pflegekräfte in den Krankenhäusern arbeiten jetzt schon Teilzeit, oft um die 30 Stunden. Die werden besonders oft zum Einspringen für fehlendes Personal herangezogen. Das ist zum einen unfair, weil die meisten ja einen guten Grund haben, weshalb sie nicht Vollzeit arbeiten. Zum anderen bekommen sie für das Einspringen auch keinen Überstundenzuschlag, weil das ‚nur‘ Mehrarbeit ist“, kritisiert Wölflingseder. Die chronische Unterbesetzung könne nicht dauerhaft durch die vorhandenen Beschäftigten aufgefangen werden, bekräftigt auch Gerald Mjka, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft vida.
„Gefährdungsanzeigen nach Rücksprache mit zuständigen Personalvertreter:innen der Dienststellen erstellen, nicht resignieren, sondern sich im Team zusammentun“, rät Andrea Wadsack Beschäftigten, wenn die Versorgung der Patient:innen aufgrund der Unterbesetzung gefährdet ist bzw. Selbstgefährdung aufgrund der Arbeitsüberlastung besteht. Der Arbeitgeber hat eine Fürsorgepflicht und dementsprechend Handlungsbedarf. Als Konsequenz bleibt kurzfristig meist nur, Betten oder ganze Abteilungen zu sperren, sind sich die vier Vertreter:innen der Beschäftigten einig.
Silvia Rosoli, AK Wien
Wie gelingt es, bei derart fordernden Arbeitsbedingungen die Beschäftigten zu motivieren, gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen? „Einbinden und mitentscheiden lassen“, lautet der Ratschlag von Gewerkschafter Gerald Mjka. Die Arbeitnehmer:innen in den Ordensspitälern und in den Privatkrankenanstalten, die die Gewerkschaft vida vertritt, zeigten sich, vor die Wahl gestellt, durchaus kämpferisch. Sie votierten für Warnstreiks, als die jüngsten Kollektivvertragsverhandlungen stockten. Nach Abschluss der Verhandlungen stimmten sie über die Annahme der erzielten Ergebnisse ab. „Erst dann haben wir die Verhandlungsergebnisse angenommen. Das war auch für die Arbeitgeber eine neue Situation“, erzählt Mjka.
„Du musst wissen, wo die Leute sind, dann erfährst du auch, was sie wollen“, sagt Betriebsrat Hannes Wölflingseder. Auch als freigestellter Betriebsrat sei es wichtig, manchmal am Wochenende oder im Nachtdienst bei den Beschäftigten vor Ort zu sein. Außerdem setzt Wölfingseder mit viel Erfolg auf Social Media. „E-Mails mit langen Anhängen werden oft nicht wahrgenommen. Wir haben eine eigene Facebook-Gruppe gegründet und sind auch auf Instagram aktiv. Die Beschäftigten haben von unseren Postings über die Streikvorbereitungen Screenshots gemacht und untereinander über WhatsApp verbreitet“, sagt Wölflingseder. Zum Mitmachen motiviert der Betriebsrat die Beschäftigten nicht nur, wenn es um die Teilnahme an Protestmaßnahmen geht. Aktuell stimmen die Beschäftigten gerade über das Ziel des nächsten Betriebsausflugs ab.
„Wir brauchen mehr Bewusstseinsbildung der Bevölkerung. Jede:r hat doch Angehörige, die auf medizinische Versorgung angewiesen sind“, sagt Wadsack. „Für eine zukunftsfitte Gesundheitsversorgung benötigen wir ausreichend Gesundheitspersonal, das berufsübergreifend im intra- und extramuralen Bereich zusammenarbeitet.“ Prävention werde angesichts der Alterung der Gesellschaft und aufgrund unserer Lebensgewohnheiten immer wichtiger. „Schwer übergewichtige Zwölfjährige mit Diabetes und Schlaganfällen wären vermeidbar. Auch bei älteren Menschen ist es sinnvoll, die Beweglichkeit mit Physiotherapie und Ergotherapie zu stärken, damit sie möglichst lange eigenständig leben können. Vorsorge bedeutet Leid zu vermeiden und Kosten zu sparen – warum nimmt die Politik davon so wenig Notiz?“, fragt sich Wadsack.
Weiter dran bleibt die AK an der Registrierung der nicht-ärztlichen Gesundheitsberufe, die mit 2018 in Österreich eingeführt wurde. „Die Registrierung erhöht die Sichtbarkeit der Beschäftigten und dient auch der Qualitätssicherung. Zusätzlich erhalten wir dadurch seriöse Daten über die Zahl der Beschäftigten in den einzelnen Gesundheitsberufen“, sagt die Leiterin der Abteilung Gesundheitsberufe und Pflegepolitik in der AK Wien, Silvia Rosoli. Bislang im öffentlich einsehbaren Register erfasst sind die Beschäftigten aus elf Gesundheitsberufen. Andere Gesundheitsberufe wie die Beschäftigten in den medizinischen Assistenzberufen oder die Rettungssanitäter:innen fehlen – noch. Denn die AK tritt dafür ein, die Registrierung auch auf diese Berufe auszuweiten. „Auch sie spielen eine wichtige Rolle in der Gesundheitsversorgung, auch sie gehören dazu“, sagt Rosoli.
Die Eintragung ins Gesundheitsberuferegister muss nach fünf Jahren verlängert werden, damit die Berufsberechtigung aufrecht bleibt. Bei vielen Beschäftigten läuft die Gültigkeit in den nächsten Monaten ab. „Wir kommen auf Wunsch der Betriebsräte in die Betriebe, um die Beschäftigten über die Möglichkeiten zu informieren, wie sie ohne viel Aufwand ihre Berufsberechtigung verlängern können“, bietet Silvia Rosoli an. Auch für die Erörterung von berufsrechtlichen und berufspolitische Fragen, zum Beispiel im Rahmen von Betriebsversammlungen oder Sprechtagen, stehen die Expert:innen der Abteilung zur Verfügung.
Kontakt:
AK Wien / Abteilung Gesundheitsberufe und Pflegepolitik
E-Mail: gp@akwien.at