Was nicht dringend ist, unterbleibt
„Immer wieder kommen Kolleg:innen am Heimweg drauf, was sie alles nicht gemacht haben – einfach, weil auf der Station so viel los war. Das ist schlecht für die Patient:innen und belastet auch die Beschäftigten immens“, erzählt Hannes Wölflingseder, Betriebsratsvorsitzender im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Wien. Ergebnisse der „Misscare-Austria“ Studie, an der österreichweit mehr als tausend Beschäftigte teilnahmen, bestätigen dieses Bild. 84 Prozent der Befragten gaben bei der Studie an, dass in ihrem Team in den letzten zwei Wochen mindestens eine Pflegetätigkeit oft oder sehr oft weggelassen wurde oder die Tätigkeit mit einer Verzögerung durchgeführt wurde, die für die Sicherheit der Patient:innen nachteilig war. Der Grund? Mehr als zwei Drittel der Befragten sagt, dass die Personalbesetzung in der Pflege in den letzten drei Monaten selten oder nie angemessen war.
Hunderte Gutstunden und kein Ersatz in Sicht
Auch bei den Hebammen und den medizinisch, diagnostischen und therapeutischen Berufen (MTD) arbeiten viele Beschäftigte längst am oder über dem Limit. „Es gibt Beschäftigte, deren Urlaubs-, Über- und Nachtgutstunden eine derartige Höhe erreicht haben, dass es aussichtslos erscheint, diese unter dem bestehenden Personalmangel jemals abbauen zu können“, schildert die Vorsitzende des Personalgruppenausschusses für die MTD-Berufe in der Hauptgruppe 2 der Gewerkschaft Younion, Andrea Wadsack, die Situation. Besonders angespannt sei die Lage bei den Radiotechnolog:innen, den Biomedizinischen Analytiker:innen und den Hebammen.
„Babys kommen auch nachts und am Wochenende zur Welt, bei einem Kreißsaal kann man nicht die Öffnungszeiten reduzieren“, so Wadsack. „Bei den Hebammen gibt es keine 1 zu 1 Versorgung bei der Geburt, eine Hebamme ist für mehrere Gebärende gleichzeitig zuständig. Zur Vor- und Nachbetreuung der Mütter außerhalb des Kreißsaals bleibt viel zu wenig Zeit“, so Wadsack. Von ausreichend hoch qualifiziertem Gesundheitspersonal, um überhaupt präventive Gesundheitsvorsorge betreiben zu können, sei Österreich leider weit entfernt.
Bundesweiter Personalbedarfsschlüssel
„Wir brauchen einen bundesweiten Schlüssel, der den Personalbedarf vorgibt und der auch sanktionierbar ist“, wünscht sich Betriebsrat Hannes Wölflingseder. Als einen spannenden Ansatz sieht er den Tarifvertrag öffentlicher Dienst in Berlin, in dem seit 2015 ein Mindestbedarfsschlüssel verankert ist. „Bei einer Unterbesetzung, die unter dem vorgegebenen Personalschlüssel liegt, bekommen die betroffenen Beschäftigten als Ausgleich Freizeit“, erzählt der Betriebsrat. Um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und mehr Menschen für die Arbeit im Gesundheits- und Sozialbereich zu gewinnen, brauche es zudem eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich.
„Die meisten Pflegekräfte in den Krankenhäusern arbeiten jetzt schon Teilzeit, oft um die 30 Stunden. Die werden besonders oft zum Einspringen für fehlendes Personal herangezogen. Das ist zum einen unfair, weil die meisten ja einen guten Grund haben, weshalb sie nicht Vollzeit arbeiten. Zum anderen bekommen sie für das Einspringen auch keinen Überstundenzuschlag, weil das ‚nur‘ Mehrarbeit ist“, kritisiert Wölflingseder. Die chronische Unterbesetzung könne nicht dauerhaft durch die vorhandenen Beschäftigten aufgefangen werden, bekräftigt auch Gerald Mjka, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft vida.
„Gefährdungsanzeigen nach Rücksprache mit zuständigen Personalvertreter:innen der Dienststellen erstellen, nicht resignieren, sondern sich im Team zusammentun“, rät Andrea Wadsack Beschäftigten, wenn die Versorgung der Patient:innen aufgrund der Unterbesetzung gefährdet ist bzw. Selbstgefährdung aufgrund der Arbeitsüberlastung besteht. Der Arbeitgeber hat eine Fürsorgepflicht und dementsprechend Handlungsbedarf. Als Konsequenz bleibt kurzfristig meist nur, Betten oder ganze Abteilungen zu sperren, sind sich die vier Vertreter:innen der Beschäftigten einig.