„Gewalt nimmt zu, auch am Arbeitsplatz.“ Die Aggressionsbereitschaft ist in Österreich gestiegen, weiß Adriana Mandl, Expertin aus der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien. Ob im Zug, im Krankenhaus oder im Supermarkt – Übergriffe gehören in diesen Arbeitsumfeldern beinahe zum Alltag. So hat etwa fast jede zweite Handelsangestellte Gewalterfahrungen gemacht. Meistens sind hier Frauen betroffen – sie werden angeschrien, beleidigt, bedroht oder belästigt. Die Ergebnisse einer Umfrage der GPA, die heuer veröffentlicht wurde, sind erschreckend.
„Gewalt und Belästigung sind sehr facettenreich“, sagt Mandl. Sie reichen von körperlicher Gewalt über psychische Gewalt und Mobbing bis hin zu sexueller Gewalt und Belästigung. Eine genaue Abgrenzung ist oft schwierig. „Auch Poster von Pin-ups am Arbeitsplatz fallen unter Belästigung.“ Zudem kann Gewalt von Kund:innen ausgehen, genauso wie von den Kolleg:innen oder vom Vorgesetzten. Das macht die Lage komplex. Für die Betroffenen heißt das meist: Erfahrungen mit Gewalt oder Belästigung werden als individuelles Problem degradiert – oder als „Berufsrisiko“ verharmlost.
Doch seit dem 11. September dieses Jahres sorgt das Übereinkommen Nr. 190 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt für Hoffnung. „Das Besondere daran ist, dass erstmals eine international geltende Definition zu diesen Themen vorliegt. Gewalt und Belästigung umfassen alle Arten von inakzeptablen Verhaltensweisen – egal, ob einmalig oder wiederholt.“ 187 Mitgliedstaaten haben das Abkommen beschlossen, Österreich hat es bereits ratifiziert.
Das Recht auf einen gewalt- und belästigungsfreien Arbeitsplatz wird damit deutlich gestärkt. Nun muss es in nationales Recht umgesetzt werden. Doch was heißt das konkret? „Der Gesetzgeber hat zu prüfen, wo es Anpassungsbedarf gibt“, erklärt die Juristin Mandl. „So hat Österreich zwar weltweit gesehen einen hohen Schutzstandard, doch vieles kommt in der Praxis bei den Betroffenen nicht an – und bietet zu wenig effektiven Schutz.“ Mit dem ILO-Übereinkommen müssen Arbeitgeber ihre Fürsorgepflicht stärker als bisher wahrnehmen.
„Grundsätzlich hat Österreich einen hohen Schutzstandard, doch vieles kommt in der Praxis bei den Betroffenen nicht an.“
Adriana Mandl, AK Wien
So ist etwa neu, dass alle Beschäftigten in den Schutzbereich fallen, auch Praktikant:innen und freie Dienstnehmer:innen. Auch Arbeitswege gehören geschützt. „Man denke an eine Reinigungskraft, die am frühen Morgen, wenn es noch dunkel ist, ganz allein ihren Dienst verrichten muss, oder an eine Kellnerin, die am Abend allein arbeitet. Hier sind nun angemessene Maßnahmen gefordert, um vor Gewalt und Belästigung zu schützen.“
Doch wie kann das in der Praxis aussehen? „Klar ist, das ist nicht nur Sache des Betriebs, auch der Gesetzgeber ist gefragt.“ Es braucht also Sensibilisierung und Schulungen für Führungskräfte in den Unternehmen, genauso wie Leitlinien durch die Interessenvertretungen der Arbeitgeberseite, mit Fokus auf besonders betroffene Berufe und Branchen.
Aktuell haben 55 Prozent aller Betriebe in Österreich kein Schutzkonzept, wie die aktuelle Europäische Unternehmenserhebung über neue und aufkommende Risiken (ESENER) zeigt. „Wenn ich in so einem Betrieb arbeite, weiß ich als Arbeitnehmer:in nicht, ob, wann und wie mir geholfen wird.“ Mandl empfiehlt daher Betriebsvereinbarungen oder verpflichtende interne Leitlinien zum Schutz und zur Prävention. „Eine erste Ansprechstelle einzurichten und Schulungen durchzuführen, sind die ersten wichtigen Schritte – als Teil eines Präventionskonzeptes.“
Für Betriebsratsmitglieder birgt das ILO-Übereinkommen eine Chance, weil Betriebsvereinbarungen grundsätzlich gestärkt werden. „Wichtig wäre, dass der Betriebsrat frühzeitig und aktiv alle infrage kommenden Maßnahmen für die Beschäftigten auch durchsetzen kann. Hier ergeben sich in der Praxis aber oft Abgrenzungsprobleme und Defizite“, so die Expertin.
Fehlt ein solches Konzept, fordern Arbeiterkammer und ÖGB, dass Arbeitgeber im Fall einer Belästigung Schadensersatz von mindestens 5.000 Euro an Betroffene leisten müssen. Zur Abschreckung – denn oft scheuen die Betroffenen den Gerichtsprozess. „Einerseits wollen sie sich einem jahrelangen Verfahren nicht psychisch aussetzen, andererseits hat der zugesprochene Schadensersatz zur Symbolwirkung“, so Mandl.
Ein Gewaltschutzkonzept verbessert das Arbeitsumfeld unter den Kolleg:innen und stärkt die Bindung zwischen Beschäftigten und Unternehmen. Mandl: „Letztlich profitieren alle, denn jeder Übergriff ist einer zu viel.“