Eigentlich wollte er nie dort arbeiten. Doch vor vier Jahren wurde Fabian Warzilek vom AMS ein Vorstellungsgespräch beim Essenszusteller Lieferando vermittelt. „Das sind Leute, die andere ausbeuten, so wie alle in dieser Branche“, dachte er damals. Beim Vorstellungsgespräch in Innsbruck wurde er jedoch positiv überrascht. Alle Rider – wie die Zusteller:innen in der Branche genannt werden – waren fix angestellt und wurden ordnungsgemäß pro Stunde bezahlt. Also begann Warzilek dort als Schichtleiter – und hat bis heute eine abenteuerliche Reise hinter sich.
Von der schwierigen Gründung eines Betriebsrats über den Aufstieg zum Betriebsratsvorsitzenden für ganz Österreich bis hin zum absoluten Schockmoment im heurigen Frühjahr: Von einem Tag auf den anderen standen die fast 1.000 Rider bei Lieferando ohne Job da. Denn das Unternehmen stellte den Betrieb um – von angestellten Ridern mit Kollektivvertrag auf ein Modell mit freien Dienstnehmer:innen. Damit gibt es keine Zuschläge, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – und im Weiteren auch keinen Betriebsrat mehr.
Ein Rückschritt mit System? Die kritischen Stimmen häufen sich: Plattformarbeit sei ein Einfallstor für Prekarisierung und Sozialdumping – sowie langfristig sogar für Sozialbetrug. Zur Erklärung: Plattformarbeit bezeichnet Tätigkeiten, die über digitale Plattformen wie Apps oder Websites vermittelt und gesteuert werden, wie etwa Essenslieferungen oder Fahrdienste. Beschäftigte gelten dabei oft als selbstständig, arbeiten aber faktisch weisungsgebunden und ohne Schutz durch Arbeitsrecht oder Kollektivverträge.
„Wir waren nicht perfekt, aber im Vergleich zur Konkurrenz für viele eine Zuflucht, da alle anderen ohnehin nur mit freien Dienstnehmer:innen arbeiten“, erzählt Warzilek. Menschen mit schwierigen Lebenswegen, Menschen mit Behinderung, Migrant:innen und viele andere fanden hier einen Job, der Sicherheit bot. „Jetzt sind viele wieder raus aus dem System. Kein Kollektivvertrag, kein Krankengeld, keine Kontrolle mehr.“ Einige der Betroffenen drohen sogar ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlieren, weil sie ohne Arbeitsverhältnis das Land verlassen müssten.
Den Großteil der Ausrüstung – wie Fahrrad oder E-Moped und wetterfeste Kleidung – müssen die Rider nun selbst zahlen. Und auch die gesundheitlichen Gefahren steigen. „Der Arbeitgeber hat eine Sorgfaltspflicht gegenüber seinen Angestellten. Bei zu großer Hitze, extremem Regen oder Hagel musste Lieferando per Gesetz sagen: Wir stellen die Lieferungen ein“, so Warzilek. Das ist jetzt anders. „Wenn du darauf angewiesen bist, einen Auftrag zu fahren, weil du dir sonst morgen das Essen nicht mehr leisten kannst, dann fährst du auch bei Hitze und riskierst alles“, meint der 32-Jährige.
Dass die meisten Rider über die Kündigungswelle zuerst aus den Medien erfuhren – noch bevor der Betriebsrat konsultiert wurde –, war laut Warzilek ein doppelter Vertrauensbruch. Immerhin gelang es, einen Sozialplan mit einem Volumen von 1,7 Millionen Euro zu verhandeln. Und viele ehemalige Rider fanden durch eine Jobbörse des Betriebsrats neue Anstellungen, etwa bei Verkehrsbetrieben oder Sicherheitsdiensten.
„Wenn du darauf angewiesen bist, einen Auftrag zu fahren, dann fährst du auch bei Hitze und riskierst alles.“
Fabian Warzilek, Lieferando
Offiziell sind die verbliebenen Zusteller:innen jetzt freie Dienstnehmer:innen. In der Praxis aber arbeiten sie unter klarer Anleitung der App: „Sie müssen zur richtigen Zeit beim richtigen Restaurant sein und das Essen zur richtigen Adresse liefern. Wer Aufträge ablehnt, wird abgestraft und bekommt keine Anfragen mehr“, schildert Warzilek. Unternehmerische Freiheit sieht anders aus.
Für Ludwig Dvořák, Bereichsleiter Arbeitsrechtliche Beratung und Rechtsschutz der AK Wien, ist klar: „Viele Merkmale sprechen dafür, dass hier echte Dienstverhältnisse vorliegen. Die App ist das zentrale Betriebsmittel, der Arbeitsablauf wird klar vorgegeben und die Kontrolle erfolgt digital.“ Es sei zwar Aufgabe der Gerichte, Scheinselbstständigkeit im Einzelfall festzustellen, aber das System setze die Betroffenen massiv unter Druck. „Viele trauen sich nicht zu klagen, weil sie ökonomisch abhängig sind oder gar nicht wissen, welche Rechte sie hätten“, erklärt der Experte für Arbeitsrecht.
Ein Lichtblick könnte die neue EU-Richtlinie zur Plattformarbeit sein, die 2024 beschlossen wurde und nun in nationales Recht überführt werden muss. Zentrale Neuerung: Künftig gilt die Vermutung eines Arbeitsverhältnisses – und der Plattformbetreiber muss das Gegenteil beweisen. „Ein wichtiger symbolischer Schritt“, sagt Dvořák. Entscheidend sei aber die Umsetzung: „Wenn der Gesetzgeber nur das Mindestmaß übernimmt, überlassen wir die Auslegung wieder jahrelang den Gerichten.“
Warzilek sieht die Richtlinie als große Chance, aber auch als Notwendigkeit: „Das aktuelle Modell lädt zum Missbrauch ein. Man kann das Handy einem Dritten überlassen, der dann zu Dumpinglöhnen fährt. Ohne Kontrolle und ohne Absicherung.“ Und auch die Bundesregierung hat das Problem inzwischen erkannt. So sollen Kollektivverträge ab 1. Jänner 2026 auch Bestimmungen für freie Dienstnehmer:innen enthalten können, etwa zu Mindeststundensätzen oder Aufwandersatz. Außerdem sind gesetzliche Kündigungsfristen als zusätzlicher Mindestschutz geplant.
„Viele Rider trauen sich nicht zu klagen, weil sie ökonomisch abhängig sind oder gar nicht wissen, welche Rechte sie hätten.“
Ludwig Dvořák, AK Wien
„Ein Betriebsrat kann nur für echte Arbeitnehmer:innen einen Sozialplan verhandeln“, betont Dvořák. Nur wenn nachweislich ein Betriebsübergang vorliegt – etwa, wenn dieselben Mitarbeiter:innen weiterbeschäftigt werden –, könnte der Betriebsrat bestehen bleiben. Einige ehemalige Betriebsratsmitglieder bei Lieferando klagen genau das nun ein.
Für die Arbeiterkammer steht fest: Plattformarbeit darf nicht länger ein Schlupfloch für prekäre Beschäftigung sein. Drei Punkte hält Ludwig Dvořák für zentral: die effektive Umsetzung der EU-Richtlinie, um Scheinverhältnissen einen Riegel vorzuschieben. Stärkere Kontrolle durch Behörden, um Sozialbetrug frühzeitig zu erkennen. Und eine klare Auftraggeberhaftung, damit sich Unternehmen nicht durch Subunternehmen aus der Verantwortung stehlen können. Dvořák warnt: „Ein Geschäftsmodell, das darauf beruht, Beschäftigte um ihre Ansprüche zu bringen, ist auf Dauer nicht tragfähig.“
Noch drastischer formuliert es Warzilek: „Wenn man jetzt nichts tut, sind als Nächstes die Busfahrer dran, dann die Lageristen und danach die Leute im Handel. Denn es ist kein einziger Job davor gefeit, dass man irgendwann auf freie Dienstnehmer:innen umstellt.“
Das Riders Collective des ÖGB setzt sich für eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse in der Plattformökonomie ein. Die Initiative dient als Anlaufstelle und Sprachrohr für Bot:innen, fördert ihre Vernetzung und dient als Informationsplattform
Mit dem Riders Collective Space (U-Bahn-Bogen 36, 1080 Wien) steht außerdem ein eigener Raum zur Verfügung. Rider können hier Ruhepausen einlegen, ihr Fahrrad reparieren – oder sich niederschwellig beraten lassen.
Hier findest du das Riders Collective im Internet.