Ins Hintertreffen ist Österreich nicht nur bei der Bekämpfung der Teuerung geraten. Auch bei der Entwicklung einer neuen, gesunden Vollzeit für das 21. Jahrhundert sind viele Länder weiter. Nach erfolgreichen Pilotprogrammen in Island und Großbritannien verkündete kürzlich die spanische Regierung, die Einführung der Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich zu testen. Die Meldung wurde just am selben Tag bekannt, als AK Präsidentin Renate Anderl auch für Österreich einen derartigen Versuch verlangte.
„Die gesetzliche Definition von 40 Stunden Normalarbeitszeit ist im 21. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß. Es wird immer intensiver gearbeitet, der Arbeitsdruck steigt quer durch alle Branchen. Wir brauchen dringend eine neue, gesunde Vollzeit“, erklärt Renate Anderl ihren Vorstoß. Während die Regierung bisher mauert, teilt die überwältigende Mehrheit der Beschäftigten die Forderung der AK. In einer Online-Umfrage, an der sich 4.700 Personen beteiligten, gaben 82 Prozent an, kürzer arbeiten zu wollen.
„Die Tendenz ist immer gleich: Männer wie Frauen, Arbeiter:innen wie Angestellte möchten weniger Stunden arbeiten“, erläutert Sybille Pirklbauer, Leiterin der Abteilung Sozialpolitik in der AK Wien. Würde eine 30-Stunden-Woche mit vollem Lohn- und Personalausgleich als neue Vollzeit eingeführt, fände dies sehr hohe Akzeptanz. Drei Viertel der Befragten würden dann 30 Stunden oder knapp darunter arbeiten.
Von diesem neuen Vollzeitmodell sind wir derzeit weit entfernt. „Wir stechen im EU-Vergleich durch besonders lange Arbeitszeiten hervor“, so Pirklbauer. Brisant ist zusätzlich, dass vergangenes Jahr rund jede vierte Überstunde unvergütet blieb. Es geht um mehr als 47 Millionen Überstunden. Wie dieses Verhalten mancher Arbeitgeber einzustufen ist? „Das ist eine Form von Betrug“, sagt Pirklbauer. Den Beschäftigten entgehen dadurch 1,2 Milliarden Euro.
Hier kannst du die Umfrageergebnisse im Detail nachlesen.
Renate Anderl, Präsidentin der AK Wien
In Österreich wurde die Arbeitszeit auf gesetzlicher Ebene zuletzt 1975 verkürzt. Die Produktivität hat sich seither verdoppelt. Weitere Verkürzungen gehen auf den Einsatz der Gewerkschaften zurück, die in vielen Kollektivverträgen kürzere Arbeitszeiten verankern konnten. „Es ist hoch an der Zeit, dass auch der Gesetzgeber endlich in der modernen Arbeitswelt ankommt und in allen Branchen eine moderne Vollzeit ermöglicht“, sagt Pirklbauer. Denn die gestiegene Arbeitsproduktivität erleben die Beschäftigten als stark erhöhten Arbeitsdruck.
„Die Menschen arbeiten heute viel intensiver als etwa in den 1970er-Jahren. Wir brauchen mehr Zeit für Erholung, um dauerhaft leistungsfähig zu bleiben“, sagt Renate Anderl. Auch die Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern erhielte durch kürzere Arbeitszeiten einen neuen Anstoß. Denn bei einer gesetzlichen 30-Stunden-Woche würden sich die Arbeitszeiten der meisten Frauen als auch Männer bei dieser Arbeitszeit einpendeln.
Wie kommen wir zu der kürzeren Arbeitszeit? Die AK möchte dies mit einem Drei-Punkte-Programm bewirken. Schritt für Schritt soll die Arbeitszeit für alle Branchen gesetzlich verkürzt werden.
AK Präsidentin Renate Anderl fordert Minister Kocher auf, ein neues Arbeitszeitgesetz auszuhandeln. „Dabei muss er alle Sozialpartner einbinden. Im Mittelpunkt muss eine spürbare Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich stehen.“
In Großbritannien konnten die beteiligten Unternehmen ihre Umsätze steigern und die Zahl der Krankenstandstage sank. Der Pilotversuch wurde unter Mitwirkung von Wissenschaftlern der Eliteuniversität Oxford durchgeführt. Anderl dazu: „Diese Ergebnisse kann man nicht einfach ignorieren. Herr Kocher sollte die Wissenschaft ernst nehmen und auch für Österreich einen Pilotversuch starten.“
Die bestehende Vollzeitnorm wird durch intransparente All-in-Verträge regelmäßig ausgehöhlt. All-in-Verträge sollen nur mehr in Ausnahmefällen für Führungskräfte ab einem bestimmten Einkommen vereinbart werden können.