Aufgrund der Arbeitszeitstatistiken und -wünsche sowie der ökonomischen Berechnungen wäre glasklar, dass die Arbeitszeit reduziert werden müsste. Warum ist in dieser Frage die Unternehmensseite so bockig?
Markus Marterbauer: Manche Unternehmerlobbys haben noch nicht realisiert, was Arbeitskräfteknappheit bedeutet. Dadurch verschiebt sich die Macht zu den Beschäftigten: Nun können sie sich aussuchen, zu welchen Bedingungen sie arbeiten. Hätten wir eine sehr hohe Arbeitslosigkeit und kämen zehn Arbeitslose auf eine offene Stelle, wäre es schwierig für die Beschäftigten, sie wären auf der kürzeren Seite. Also dass sich die Unternehmen gerade jetzt stärker an den Wünschen der Beschäftigten ausrichten müssen, ist noch nicht ganz durchgedrungen.
Die Wirtschaft will „Anreize“ und glaubt, bei kürzerer Arbeitszeit würde noch mehr Personal fehlen. Dabei ist die derzeitige Situation mit den 1970-er-Jahren vergleichbar: Österreich reduzierte die Wochenarbeitszeit von 45 auf 40 Stunden und entwickelte sich aus der Arbeitskräfteknappheit heraus.
Markus Marterbauer: Arbeitszeitverkürzung ist nur bei Knappheit möglich. Dann sind Beschäftigte und Arbeitnehmer:innenvertretungen stark genug, sie auch durchzusetzen. In der ersten Hälfte der 70-er-Jahren kamen auf eine offene Stelle 0,4 Arbeitslose, heute sind es 2,1. Und Österreich war wirtschaftlich auf der Überholspur, die Kosten waren verkraftbar. Arbeitszeitverkürzung hat immer zur Wohlstandsverbesserung für die arbeitende Bevölkerung geführt. Aber jedes Mal haben die Arbeitgeber:innen Zeter und Mordio geschrien, nie ist die Wirtschaft zusammengebrochen – sonst hätten wir schon lange keine mehr.
Zweitens finden die Unternehmen, die sich den Wünschen der Beschäftigten anpassen, am ehesten welche. Die innovativen Betriebe, die sich neue Schichtpläne überlegen, die Arbeit besser einteilen, Teilzeitkräften mehr Stunden geben, neue Gruppen am Arbeitsmarkt ansprechen – die werden sich durchsetzen. Jene, die sagen, es muss alles so bleiben wie in den 50-er-Jahren, werden keine Arbeitskräfte mehr kriegen. Arbeitszeitverkürzung ist mit wirtschaftlichem Erfolg verbindbar: Sie beschleunigt unseren Strukturwandel, von dem wir alle profitieren.
Drittens haben wir enorme Arbeitskräftepotenziale, nämlich viele Beschäftigte in schlechten Jobs. 2021 gab es zwischen 520.000 und 650.000 Vollzeit-Arbeitende, die unter 2000 Euro brutto verdienen. Die sollten rasch in gute Beschäftigung in der Industrie, aber auch in viele Dienstleistungsbranchen wechseln. Die Arbeitszeitverkürzung würde nochmals den Druck erhöhen auf die Unternehmen, dass sie Beschäftigte im Betrieb durch attraktive Arbeitszeiten binden.