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Interview

Arbeitszeitverkürzung: Großes Ansteckungspotenzial

Eine kürzere Arbeits­zeit bringt weder in die positive noch in die negative Rich­tung starke gesamt­wirt­schaft­liche Effekte, ist verkraft­bar und steigert den Wohl­stand. 

Heike Hausensteiner
12.07.2023

Wie, das erklärt Markus Marterbauer, Chef­ökonom der AK Wien, im Gespräch mit AKtuell. 

Laut Studie des Wirtschafts­forschungs­instituts (WIFO) im Auftrag der AK Wien würde eine Arbeitszeitverkürzung mehr Wohlfahrt für die Beschäftigten bringen, aber wenig Wirtschaftsleistung kosten. Lässt sich das so auf den Punkt bringen? 

Markus Marterbauer: Ja, die Menschen arbeiten bei verkürzter Arbeits­zeit produktiver. Tatsache ist: Ein Viertel der Vollzeit-Beschäftigten will weniger Stunden arbeiten, und ein Viertel der Teilzeit-Beschäftigten will aufstocken. Wir wollten abschätzen lassen, welche gesamt­wirtschaftlichen Folgen das hat. Das Ergebnis: Die gesamt­wirtschaftlichen Effekte sind weder in die positive noch in die negative Richtung stark. Es bringt ein bisschen mehr Beschäf­tigung, Produk­tivität und Preise und ein bisschen weniger Produktion. 

Damit spricht nichts dagegen, die Wünsche der Beschäftigten nach passenden Arbeits­zeiten umzusetzen. Das muss im Mittelpunkt stehen, weil es die Lebens­bedingungen der Menschen verbessert. Aufgabe der Wirtschaft ist es ja nicht, die Leute in überlange Arbeits­zeiten zu pressen, etwa indem Über­stunden steuerlich begünstigt werden. Wir brauchen eine menschen­freundliche Arbeits­zeit­politik und eine Wirtschafts­politik, die es etwa Beschäftigten aus schlechten Jobs ermöglicht, in gute Beschäf­tigung zu wechseln. Besonders bei Arbeitskräfte­knappheit wäre das notwendig und würde großen Wohlstands­gewinn bedeuten.


Markus Marterbauer, AK Wien © Markus Zahradnik
© Markus Zahradnik
Markus Marterbauer, Leiter der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der AK Wien




"Arbeit­geber, die sa­gen, es muss alles so blei­ben wie in den 50-er-Jahren, wer­den keine Arbeits­kräf­te mehr krie­gen."

Markus Marterbauer, AK Wien

Aufgrund der Arbeits­zeit­statistiken und -wünsche sowie der ökono­mischen Berech­nungen wäre glasklar, dass die Arbeits­zeit reduziert werden müsste. Warum ist in dieser Frage die Unter­nehmens­seite so bockig?

Markus Marterbauer: Manche Unternehmerlobbys haben noch nicht realisiert, was Arbeitskräfte­knappheit bedeutet. Dadurch verschiebt sich die Macht zu den Beschäftigten: Nun können sie sich aussuchen, zu welchen Bedingungen sie arbeiten. Hätten wir eine sehr hohe Arbeitslosigkeit und kämen zehn Arbeitslose auf eine offene Stelle, wäre es schwierig für die Beschäftigten, sie wären auf der kürzeren Seite. Also dass sich die Unternehmen gerade jetzt stärker an den Wünschen der Beschäftigten ausrichten müssen, ist noch nicht ganz durchgedrungen. 

Die Wirtschaft will „Anreize“ und glaubt, bei kürzerer Arbeits­zeit würde noch mehr Personal fehlen. Dabei ist die der­zeitige Situation mit den 1970-er-Jahren vergleichbar: Österreich reduzierte die Wochenarbeits­zeit von 45 auf 40 Stunden und entwickelte sich aus der Arbeits­kräfte­knapp­heit heraus.

Markus Marterbauer: Arbeitszeitverkürzung ist nur bei Knappheit möglich. Dann sind Beschäftigte und Arbeit­nehmer:innen­­vertretungen stark genug, sie auch durch­zusetzen. In der ersten Hälfte der 70-er-Jahren kamen auf eine offene Stelle 0,4 Arbeits­lose, heute sind es 2,1. Und Österreich war wirtschaftlich auf der Überhol­spur, die Kosten waren verkraftbar. Arbeitszeit­verkürzung hat immer zur Wohlstands­verbesserung für die arbeitende Bevölkerung geführt. Aber jedes Mal haben die Arbeitgeber:innen Zeter und Mordio geschrien, nie ist die Wirt­schaft zusammen­gebrochen – sonst hätten wir schon lange keine mehr.

Zweitens finden die Unter­nehmen, die sich den Wünschen der Beschäftigten anpassen, am ehesten welche. Die innovativen Betriebe, die sich neue Schicht­pläne überlegen, die Arbeit besser einteilen, Teilzeit­kräften mehr Stunden geben, neue Gruppen am Arbeits­markt ansprechen – die werden sich durchsetzen. Jene, die sagen, es muss alles so bleiben wie in den 50-er-Jahren, werden keine Arbeitskräfte mehr kriegen. Arbeitszeit­verkürzung ist mit wirt­schaftlichem Erfolg verbindbar: Sie beschleunigt unseren Struktur­wandel, von dem wir alle profitieren.

Drittens haben wir enorme Arbeitskräfte­potenziale, nämlich viele Beschäftigte in schlechten Jobs. 2021 gab es zwischen 520.000 und 650.000 Vollzeit-Arbeitende, die unter 2000 Euro brutto verdienen. Die sollten rasch in gute Beschäftigung in der Industrie, aber auch in viele Dienst­leistungs­branchen wechseln. Die Arbeitszeit­verkürzung würde nochmals den Druck erhöhen auf die Unternehmen, dass sie Beschäftigte im Betrieb durch attraktive Arbeits­zeiten binden.

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WIFO-Studie 

Zudem gibt es internationale Vor­reiter wie Island, Neusee­land oder sogar Japan. Wird das irgend­wann Österreich anstecken?

Markus Marterbauer: Das Bild der Ansteckung gefällt mir sehr gut. Verkürzung der Arbeitsz­eit ist auf verschiedenste Arten möglich, durch mehr Urlaub, weniger Stunden oder Tage pro Woche; interessant ist speziell die Freizeit­option, die es schon in vielen Kollektiv­verträgen gibt. Das alles wird die österreichischen Betriebe nicht unberührt lassen. Auch bei den Beschäftigten wird es diesen Ansteckungs­effekt geben: Derzeit wünscht ein Viertel der Vollzeit­beschäftigten kürzere Arbeits­zeit, das wird rasch mehr werden.

In Neuseeland haben Betriebe mit der Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich familien­freundlichere Arbeits­plätze geschaffen – und den Wert der Frauen als Beschäftigte zu schätzen gelernt: Sie sind die besten Managerinnen der Welt, weil gewohnt, vieles unter einen Hut zu bringen. Mit flexiblen Rahmen­bedingungen ist das für alle effizient. Es lohnt sich enorm auch für die Betriebe und ist eine Win-Win-Situation.

Wird unter­schätzt, wie sehr die Organisation von Wirt­schaft und Arbeits­leben sowie die Organi­sation von Familien­leben und Betreuungs­pflichten kommunizierende Gefäße sind?

Markus Marterbauer: Das ist ein ganz wichtiger Punkt in der Arbeits­teilung zwischen den Geschlechtern und Partner­schaften. Viele Vollzeit arbeitende Männer würden gerne reduzieren, viele Teilzeit arbeitende Frauen möchten aufstocken, Voraus­setzung ist eine gerechtere Aufteilung der Care-Arbeit. In der Debatte geht es nie nur um Arbeits­zeit­verkürzung! Wenn es Frauen gelänge, auf 30 Stunden zu erhöhen, bedeutete das für sie ein Drittel mehr Einkommen. Die Sorge-Arbeit gehört zum menschlichen Leben genauso dazu wie die Erwerbs­arbeit. Das muss zusammen­spielen. In diesem Sinn sind sie kommunizierende Gefäße, beides ist zu ermöglichen und wohlstandssteigernd.

A propos Wohl­stand: Wurden in der makro­ökono­mischen Studie zur Arbeits­zeit­verkürzung sinkende Gesund­heits­aus­gaben ebenfalls nach­gewiesen?


Markus Marterbauer: Es gibt andere Unter­suchungen, dass überlange Arbeits­zeiten zu gesund­heitlichen Belastungen und hohen sozialen Kosten führen. In Österreich haben wir Arbeitskräfte­knappheit gerade in den Bereichen mit mehr als 40 Wochen­stunden, weil die Leute ausbrennen. 30 Jahre in der Pflege zu arbeiten, ist für viele unmöglich vorstellbar. Daher müssen wir da Bedingungen schaffen, damit die Beschäftigten den Job gesund durchstehen. Bei den vorletzten Kollektiv­vertrags­verhand­lungen gab es in dieser Branche nicht die Forderung nach höherem Gehalt, sondern nach Arbeitszeit­verkürzung auf 35 Wochenstunden. 

Vor 50 Jahren gab es die letzte – wann, aus dem Bauch heraus geschätzt, wird es die nächste Arbeits­zeit­verkürzung geben?

Markus Marterbauer: Ich glaube, dass wir innerhalb der nächsten zehn Jahre merkliche Veränderungen sehen werden. Da wird nicht nur auf der individuellen Ebene viel passieren, sondern auch auf der kollektiven. Sei es gesetzlich durch eine sechste Urlaubs­woche oder kollektiv­vertraglich in Richtung 30 Stunden. 


Arbeits­zeit­ver­kürzung im Unter­nehmen?


Wir suchen dich!

Dein Unternehmen plant die wöchent­liche Arbeitszeit zu verkürzen oder hat das bereits getan? Falls ja, dann melde dich bei uns. Die AK Wien tritt für eine gesetzliche Arbeitszeitverkürzung ein und sucht Betriebe, in denen kürzer arbeiten bereits Wirklichkeit ist oder bald werden soll. Wir möchten zeigen, dass die Verkürzung der Arbeits­zeit sowohl für Betriebe als auch die Beschäftigten ein Erfolgs­rezept ist. 

Falls du also Interesse hast, dein Unternehmen in Sachen kürzer arbeiten vor den Vorhang zu holen, melde dich bitte bei uns. Idealerweise mit den relevanten Eckdaten (Betriebssparte, Umfang der Verkürzung, Anzahl der Mitarbeiter:innen im Betrieb).

Einfach Mail an Timon Pfleger aus der Abteilung Sozialpolitik in der AK Wien: timon.pfleger@akwien.at 

Wir freuen uns auf deine Nachricht.


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