Oliver Röpke: Die Richtlinie ist einer der größten Erfolge auf europäischer Ebene. Sie wurde gegen den massiven Widerstand des Arbeitgeberverbands Business Europe durchgesetzt und wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen.
Oliver Röpke: Die Richtlinie soll Kollektivvertragsverhandlungen in den Mitgliedstaaten stärken. Wo es ein dichtes Netz an Kollektivverträgen (KV) gibt, sind die Einkommen generell höher. Das anerkennt nun auch die EU-Kommission. Ziel ist es, in jedem Land eine Abdeckung durch Kollektivverträge von zumindest 80 Prozent zu erreichen. Wenn die Abdeckung darunter liegt, muss die Regierung einen Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen erarbeiten, damit mehr Beschäftigte von Kollektivverträgen profitieren. In Rumänien zum Beispiel fordern die Gewerkschaften jetzt, eine restriktive Regelung zu kippen, damit Kollektivverträge breitenwirksam werden. Dort galt bislang, dass 50 Prozent der Beschäftigten der Branche Gewerkschaftsmitglied sein müssen, damit überhaupt ein KV ausgehandelt werden kann.
Oliver Röpke, Präsident der Gruppe der Arbeitnehmer:innen im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss
Martin Müller, Leiter des Referats Rechts- und Kollektivvertragspolitik im ÖGB
Oliver Röpke: Für Länder mit gesetzlichen Mindestlöhnen gibt die Richtlinie Kriterien für die Höhe des Mindestlohns vor. Er soll mindestens 60 Prozent des nationalen Bruttomedianlohns bzw. 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns betragen. Für Länder mit hoher KV-Abdeckung wie Österreich gelten die Vorgaben nicht, sie müssen auch keinen gesetzlichen Mindestlohn einführen.
Oliver Röpke: Es geht um Solidarität. Wir wollen, dass die Beschäftigten in ganz Europa existenzsichernde Mindestlöhne erhalten. Zudem kann die Richtlinie auch für Österreich positive Wirkung entfalten. Wenn die Löhne in Osteuropa steigen, weil dort die Mindestlöhne angehoben und die KV-Verhandlungen gestärkt werden, gibt es weniger Lohndumping in Österreich.
Oliver Röpke: So lange können wir nicht warten. Angesichts der Teuerung ist rasches Handeln vordringlich. Wir machen Druck, damit von Anfang an etwas weitergeht.
Martin Müller: Deshalb haben unsere KV-Verhandler:innen eine klare Zielvorgabe beschlossen. Der ÖGB fordert 2.000 Euro Mindestlohn in allen Kollektivverträgen. Das brächte für 650.000 Beschäftigte und ihre Familien eine spürbare Verbesserung.
Martin Müller: Wo auf Branchenebene nichts weitergeht, bleibt als Mittel, Druck auf übergeordneter Ebene zu machen. Schon in der Vergangenheit hat es zwischen dem ÖGB- und dem WKÖ-Präsidenten branchenübergreifend Vereinbarungen gegeben, zum Beispiel 2007 zur Umsetzung von 1.000 Euro Mindestlohn.
Bei uns sind 98 Prozent der Arbeitnehmer:innen durch einen KV geschützt. Unsere Kollektivverträge regeln weit mehr als nur den Mindestlohn. Sie regeln die Arbeitszeit und die Vorrückungen, ebenso die jährliche Lohn- bzw. Gehaltserhöhung. Dank der Kollektivverträge gibt es das Weihnachts- und das Urlaubsgeld.
Martin Müller: Die Betriebsratsmitglieder sind das „Gesicht“ der Gewerkschaft im Betrieb. Der Betriebsrat verdeutlicht den Beschäftigten am besten, wie relevant es für die eigenen Arbeitsbedingungen ist, bei der Gewerkschaft zu sein. Wer mehr Verhandlungsmacht aufweist, erzielt bessere KV-Ergebnisse. Betriebsversammlungen, Demos und Streiks sind erfolgreich, wenn es gelingt zu vermitteln: Wir ziehen gemeinsam an einem Strang.
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hat beratende Funktion gegenüber dem Europäischen Parlament, der Kommission und dem Rat. Während in Brüssel generell eine Heerschar an Lobbyisten für die Interessen der Konzerne mobil macht, sind die Gewerkschaften im EWSA gleichrangig mit den Arbeitgeber-Organisationen vertreten. Als dritte Gruppe sind Organisationen der Zivilgesellschaft im EWSA dabei. Oliver Röpke übernimmt mit April 2023 die Präsidentschaft im EWSA.