Beschäftigte in einem Waschsalon zum Thema Mindestlohn in Europa © AdobeStock_Maciek
Interview

Dumping-Löhne adieu?

Wie funktioniert die neue EU-Mindest­lohn­richt­linie? Welche Folgen hat sie für uns? AKtuell bat dazu Oliver Röpke, Präsident der Gruppe der Arbeitnehmer:innen im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, und den Kollektivvertrags-Experten Martin Müller, Leiter des Referats Rechts- und Kollektivvertragspolitik im ÖGB, zum Gespräch.
Martina Fassler
29.11.2022
in diesem Artikel

    Eine erste Einschätzung der Richtlinie?

    Oliver Röpke: Die Richtlinie ist einer der größten Erfolge auf europäischer Ebene. Sie wurde gegen den massiven Widerstand des Arbeitgeberverbands Business Europe durchgesetzt und wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen. 


    Was sind die Kerninhalte?

    Oliver Röpke: Die Richtlinie soll Kollektivvertragsverhandlungen in den Mitgliedstaaten stärken. Wo es ein dichtes Netz an Kollektivverträgen (KV) gibt, sind die Einkommen generell höher. Das anerkennt nun auch die EU-Kommission. Ziel ist es, in jedem Land eine Abdeckung durch Kollektivverträge von zumindest 80 Prozent zu erreichen. Wenn die Abdeckung darunter liegt, muss die Regierung einen Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen erarbeiten, damit mehr Beschäftigte von Kollektivverträgen profitieren. In Rumänien zum Beispiel fordern die Gewerkschaften jetzt, eine restriktive Regelung zu kippen, damit Kollektivverträge breitenwirksam werden. Dort galt bislang, dass 50 Prozent der Beschäftigten der Branche Gewerkschaftsmitglied sein müssen, damit überhaupt ein KV ausgehandelt werden kann.

    Oliver Röpke, Präsident der Gruppe der Arbeitnehmer:innen im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss © EESC
    © EESC
    Oliver Röpke, Präsident der Gruppe der Arbeitnehmer:innen im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss
    "Wir wollen, dass die Be­schäf­tig­ten in ganz Euro­pa exis­tenz­­sichern­de Mindest­löh­ne er­hal­ten."

    Oliver Röpke, Präsident der Gruppe der Arbeit­neh­mer:innen im Euro­päischen Wirt­schafts- und Sozial­ausschuss

     


    Martin Müller, Leiter des Referats für Rechts- und Kollektivvertragspolitik im ÖGB © Elisabeth Mandl
    © Elisabeth Mandl
    Martin Müller, Leiter des Referats für Rechts- und Kollektivvertragspolitik im ÖGB
    „Wer mehr Ver­hand­lungs­macht auf­weist, erzielt bes­sere KV-Er­geb­nisse .“

    Martin Müller, Leiter des Referats Rechts- und Kollektivvertrags­politik im ÖGB

    Was enthält die Richtlinie zum Thema Mindestlöhne? 

    Oliver Röpke: Für Länder mit gesetzlichen Mindestlöhnen gibt die Richtlinie Kriterien für die Höhe des Mindestlohns vor. Er soll mindestens 60 Prozent des nationalen Bruttomedianlohns bzw. 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns betragen. Für Länder mit hoher KV-Abdeckung wie Österreich gelten die Vorgaben nicht, sie müssen auch keinen gesetzlichen Mindestlohn einführen. 


    Der ÖGB hat die Mindestlohn-Richtlinie schon frühzeitig unterstützt. Weshalb?

    Oliver Röpke: Es geht um Solidarität. Wir wollen, dass die Beschäftigten in ganz Europa existenzsichernde Mindestlöhne erhalten. Zudem kann die Richtlinie auch für Österreich positive Wirkung entfalten. Wenn die Löhne in Osteuropa steigen, weil dort die Mindestlöhne angehoben und die KV-Verhandlungen gestärkt werden, gibt es weniger Lohndumping in Österreich


    Die Mitgliedstaaten haben zwei Jahre Zeit für die Umsetzung. 

    Oliver Röpke: So lange können wir nicht warten. Angesichts der Teuerung ist rasches Handeln vordringlich. Wir machen Druck, damit von Anfang an etwas weitergeht. 


    Die Teuerung belastet auch die Beschäftigten hierzulande … 

    Martin Müller: Deshalb haben unsere KV-Verhandler:innen eine klare Zielvorgabe beschlossen. Der ÖGB fordert 2.000 Euro Mindestlohn in allen Kollektivverträgen. Das brächte für 650.000 Beschäftigte und ihre Familien eine spürbare Verbesserung.


    Was, wenn die Arbeitgeberseite blockiert? 

    Martin Müller: Wo auf Branchenebene nichts weitergeht, bleibt als Mittel, Druck auf übergeordneter Ebene zu machen. Schon in der Vergangenheit hat es zwischen dem ÖGB- und dem WKÖ-Präsidenten branchenübergreifend Vereinbarungen gegeben, zum Beispiel 2007 zur Umsetzung von 1.000 Euro Mindestlohn. 


    Österreich hat bei der KV-Abdeckung einen Spitzenplatz … 

    Bei uns sind 98 Prozent der Arbeitnehmer:innen durch einen KV geschützt. Unsere Kollektivverträge regeln weit mehr als nur den Mindestlohn. Sie regeln die Arbeitszeit und die Vorrückungen, ebenso die jährliche Lohn- bzw. Gehaltserhöhung. Dank der Kollektivverträge gibt es das Weihnachts- und das Urlaubsgeld. 

    Wie kann der Betriebsrat zu starken KV-Ergebnissen beitragen?

    Martin Müller: Die Betriebsratsmitglieder sind das „Gesicht“ der Gewerkschaft im Betrieb. Der Betriebsrat verdeutlicht den Beschäftigten am besten, wie relevant es für die eigenen Arbeitsbedingungen ist, bei der Gewerkschaft zu sein. Wer mehr Verhandlungsmacht aufweist, erzielt bessere KV-Ergebnisse. Betriebs­versammlun­gen, Demos und Streiks sind erfolgreich, wenn es gelingt zu vermitteln: Wir ziehen gemeinsam an einem Strang.

     

    Webtipp

    Tipp Symbolbild © AK Wien

    Gut zu wissen: Was ist der EWSA?

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozial­ausschuss (EWSA) hat beratende Funktion gegen­über dem Euro­päischen Parla­ment, der Kommission und dem Rat. Während in Brüssel generell eine Heerschar an Lobbyisten für die Interessen der Konzer­ne mobil macht, sind die Gewerkschaften im EWSA gleichrangig mit den Arbeitgeber-Organisationen vertreten. Als dritte Gruppe sind Organisationen der Zivilgesellschaft im EWSA dabei. Oliver Röpke übernimmt mit April 2023 die Präsidentschaft im EWSA. 

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