Ein zentraler Anspruch von Demokratie ist Gleichheit. Alle Menschen sollen die gleichen Rechte haben und dadurch gleichberechtigt mitentscheiden können. Damit eine Gesellschaft tatsächlich demokratisch ist, müssen jedoch die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen stimmen. Denn soziale Ungleichheit gefährdet die Demokratie.
Die Beteiligung an Wahlen ist eng mit der Frage sozialer Gleichheit verbunden. Die Demokratiewissenschafterin Tamara Ehs und Martina Zandonella vom SORA-lnstitut zeigen in ihrer Studie1, dass die Wahlbeteiligung in Wien sehr ungleich verteilt ist.
In Bezirken mit einem hohen Durchschnittseinkommen und einer geringen Arbeitslosigkeit nehmen viele Menschen an Wahlen teil. In Bezirken mit einem geringen Durchschnittseinkommen und hoher Arbeitslosigkeit gehen dagegen deutlich weniger Menschen wählen (bis zu 15 Prozentpunkte weniger).
Dies führt zusätzlich dazu, dass die Interessen derjenigen, die ein geringes Einkommen haben, weniger gehört werden: „Wer arm oder armutsgefährdet, wer nur prekär beschäftigt oder gar langzeitarbeitslos ist, hat eine geringere Chance, dass seine oder ihre Anliegen politisch umgesetzt werden. Denn Menschen jener sozialen Klasse gehen seltener wählen als Reiche und die Mittelschicht“, geben die Autorinnen zu bedenken. Verstärkt wird die soziale Schieflage im Wahlergebnis, da in Wien 50 Prozent der Arbeiter:innen nicht wahlberechtigt sind.
Wachsende soziale Ungleichheit stürzt die Demokratie in eine Krise. Wenn sich die subjektiv empfundene Lebensqualität der Menschen verschlechtert, sinkt auch ihr Vertrauen in die Demokratie. Die Erfahrung, dass demokratisch festgelegte Teilhaberechte nicht im gleichen Ausmaß für sie gelten, führt bei Menschen zu einem Vertrauensverlust in das politische System.
58 Prozent der Beschäftigten im unteren Einkommensdrittel denken, dass das politische System in Österreich weniger oder gar nicht gut funktioniert. Abstiegsängste in der Mittelschicht und eine Entsolidarisierung der Eliten führen zusätzlich zu einer verstärkten Spaltung der Gesellschaft.
Martina Zandonella, SORA-Institut
Arbeiter:innen und Angestellte machen Erfahrungen mit Demokratie und Mitbestimmung auch in der Arbeit. Betriebliche Demokratie ermöglicht dabei Beteiligung und das Erleben ihrer Wirksamkeit. Demokratie am Arbeitsplatz steht auch für ein Netzwerk, das über betriebliche Angelegenheiten hinaus politische Ansprache ermöglicht. Die SORA-Studie zeigt, dass Betriebsrät:innen daher auch Einfluss auf die Wahlbeteiligung bei allgemeinen Wahlen in Wien haben.
Wenn Beschäftigte mit einem mittleren Einkommen einen Betriebsrat haben, dann betrug die Teilnahmewahrscheinlichkeit an der Wiener Gemeinderatswahl 81 Prozent. Ohne Betriebsrat lag die Teilnahmewahrscheinlichkeit nur mehr bei 69 Prozent.
Noch stärker ist die Bedeutung des Betriebsrats für die Wahlbeteiligung der Beschäftigten mit geringem Einkommen. Wenn sie keinen Betriebsrat haben, lag die Wahrscheinlichkeit nur bei 37 Prozent, dass sie an der Gemeinderatswahl teilnahmen. Wenn sie einen Betriebsrat haben, dann stieg die Wahrscheinlichkeit immerhin auf 54 Prozent.
Betriebliche Demokratie wirkt damit über den Betrieb hinaus und leistet einen Beitrag zur Verringerung des sozio-ökonomischen Spalts in der Wahlbeteiligung. Martina Zandonella: „Gerade Arbeiter:innen und Angestellte in den unteren Einkommensklassen machen oft erst in der Arbeit positive Erfahrungen mit Demokratie: Ihre Anliegen werden ernst genommen, Arbeitsbedingungen verbessern sich und Solidarität stärkt. Betriebsrät:innen tragen wesentlich dazu bei, dass die Demokratie insgesamt gerechter wird."
Die Wahrscheinlichkeit an Wahlen teilzunehmen, sinkt mit der sozioökonomischen Stellung in der Gesellschaft.
das obere Cluster | die Mitte | das untere Cluster | |
Jahresnettoeinkommen Ø | 30.778 € | 24.139 € | 18.541 € |
Arbeitslosenquote | 6 % | 10 % | 18 % |
Anteil Pflichtschule | 13 % | 21 % | 35 % |
Anteil Hochschule | 38 % | 22 % | 12 % |
geringes Berufsprestige | 30 % | 44 % | 59 % |
Anteil österr. Staatsbürger | 77 % | 75 % | 62 % |
Anteil aller Wahlberechtigten | 20 % | 43 % | 37 % |
Wahlbeteiligung | 81 % | 72 % | 64 % |
Wahlbeteiligung ohne Betriebsrat | 97 % | 69 % | 37 % |
Wahlbeteiligung mit Betriebsrat | 98 % | 81 % | 54 % |
Tamara Ehs und Martina Zandonella fordern einen Ausbau des Sozialstaates. „Gute Arbeitsmarktpolitik und soziale Sicherheit sind wesentlich für die Stärkung der Demokratie“, so Ehs. Vor allem die Daseinsfürsorge dürfe nicht Marktmechanismen unterworfen werden. Diese Forderung ist umso dringender, zumal die Corona-Krise die ohnehin schwierige Situation vieler Menschen zusätzlich verschärft.
Gleichzeitig zeigt die Studie die Bedeutung von positiven Demokratieerlebnissen im Alltag – in Schule oder Arbeit – für die Beteiligung an Wahlen. Mehr gesellschaftliche Gleichheit stärkt die Demokratie.
Die Wahlbeteiligung ist ungleich verteilt: Menschen mit höherem Einkommen gehen öfter wählen als Menschen mit niedrigerem Einkommen.
Wachsende soziale Ungleichheit gefährdet die Demokratie. Betriebliche Mitbestimmung fördert Demokratie allgemein: Wenn Beschäftigte einen Betriebsrat haben, dann nehmen sie auch eher an allgemeinen Wahlen teil. Soziale Sicherheit stärkt die Demokratie.
1Die Studie wurde von der Arbeiterkammer Wien und der Kulturabteilung der Stadt Wien (Forschungsförderung) finanziert.