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Interview

Normung: Wenn das Recht priva­tisiert wird

Nor­mung gewinnt an Bedeu­tung im Arbeits­leben, ist aber aus recht­licher Sicht auch proble­matisch. Mehr Bewusst­sein und Hilfe der Betriebs­räte sind not­wendig, appelliert Wirtschafts­juristin Susanne Wixforth, stell­vertre­ten­de Leiterin der Abteilung Wirtschafts­politik in der AK Wien.

Heike Hausensteiner
28.06.2023

Details dazu erläutert die AK Expertin im Interview mit AKtuell:

Wo gibt es Normen, ohne dass sie uns bewusst sind, und warum ist das Thema wichtig?

Susanne Wixforth: In unserer Vorstellung ist Normung etwas Tech­nisches. Wir denken an das DINA4-Blatt oder an Ladekabel, die jetzt in ganz Europa gleich sind. Es werden Stan­dards entwickelt, die für uns im Alltags­leben praktisch sind. Inzwischen hat sich das weiter­ent­wickelt: Die Normungs­ziele haben sich ver­schoben und greifen immer mehr in soziale und politische Bereiche ein.

Zum Beispiel hat der Kollektiv­vertrag (KV) für Denkmal-, Fassaden- und Gebäude­reiniger die ÖNORM D 2050 übernommen. Diese legt fest, wie viele Quadratmeter Reinigungs­fläche pro Stunde erfüllt werden müssen von den Beschäf­tigten. Als primäres Ziel der Einfügung in den KV wird der Schutz der Arbeitnehmer:innen vor Über­forderung genannt.


Susanne Wixforth, AK Wien © privat
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Susanne Wixforth, AK Wien
"Genau ge­nom­men sind es Pri­va­te, die sich mit Nor­men ei­nen Rechts­rah­men au­ßer­halb der Ge­setz­­ge­bung schaf­fen."

Susanne Wixforth, AK Wien

Das klingt beinah wie Akkord­arbeit.

Susanne Wixforth: Ja, nicht nur das. Sondern wir haben diese Norm davor gar nicht bemerkt. Grundsätzlich schulden unselbstständig Erwerbs­tätige keinen Erfolg, sondern müssen nach der geleis­teten Arbeits­zeit entlohnt werden – nicht danach, wie viele Quadrat­meter pro Stunde sie reinigen. Das ist ein deutliches Beispiel, wo das Arbeits- und Sozial­recht über Normung ausgehebelt wird.

Oder im Umwelt­recht gibt es die Norm ISO14000, die von den Lieferanten ein Umwelt­management­system verlangt. Somit greift sie ebenfalls in die Arbeits­organisation ein. Ein Unter­nehmen, das diesen Auftrag bekommt, verpflichtet sich zur Umsetzung wie in der Norm vorgeschrieben, ohne Rücksicht darauf, wie die interne Arbeits­organisation bisher – oft unter Mitsprache der Betriebsräte – geregelt war. 

Das Vor­gehen ist trotzdem legal?

Susanne Wixforth: Legal, aber privatisiert. Genau genommen sind es Private, die sich mit Normen einen Rechts­rahmen außerhalb der Gesetz­gebung schaffen. Wir nennen das „Privati­sierung der Recht­setzung“. Um sich bei Ausschreibungen ein umständ­liches Leistungs­verzeichnis zu ersparen, nimmt der (öffentliche) Auftrag­geber eine fertige ÖNORM, die das beauftragte Unter­nehmen – die Mitarbeiter:innen – erfüllen muss. Zusätzlich verweisen dann Gesetze und Urteile auf den Stand der Technik, so dass auch auf diesem Weg die Normung ins Arbeits­recht kommt.

Welche Rolle können Arbeitnehmer­vertre­ter:innen hier ein­nehmen?

Susanne Wixforth: Wir haben ein sehr schwaches Mit­sprache­recht. Die Normen werden in der nicht­staatlichen Organisation Austrian Standards International (ASI, früher „Österrei­chisches Normungs­institut“) vereinbart. Dort sitzen in den Arbeits­gruppen interessierte Unter­nehmen aus der jeweiligen Branche, im Normungs­beirat stellt die Seite der Arbeit­nehmer:innen und der Konsu­ment:innen je eines der 26 Mit­glieder. Das ist ein strukturelles Ungleich­gewicht

Sollen sich Arbeit­nehmer­:innen­vertre­tungen trotzdem ein­bringen?

Susanne Wixforth: Die Unter­nehmen finan­zieren die Norm­entwicklungen aus wirt­schaftlichen Interessen. Gewerkschaften und AK haben kein finanzielles Interesse und auch nicht die Ressourcen­bereitschaft. Eine Norm kostet. Dazu kommt: Ich muss zahlen, damit ich den Inhalt der Norm bekomme. Die Normen „gehören“ den Normungs­organisa­tionen, sie verdienen Geld mit ihrer Veröffent­lichung. Die meisten Normen dürfen nicht im Bundes­gesetzblatt veröffentlicht werden – wie das bei rein österrei­chischen Gesetzen der Fall ist, damit sie verbind­lich werden.

Unser erstes Ziel muss sein, unterste rote Halte­linien einzuziehen. Das Arbeits­recht darf nicht berührt bzw. indirekt beeinträch­tigt werden. Da ist uns eine Verein­barung im Bereich Dienst­leistungs­normen bzw. Gewerbe­recht mit dem ASI gelungen. Zweitens sitzen AK und ÖGB im Normungs­beirat. Bei der letzten Novelle 2016 haben wir uns eingebracht, damit die Stakeholder:innen, die Vertreter:innen der Beschäftigten-Seite, die strategische Aus­richtung mit beeinflussen können, wo Normen entwickelt werden sollen. Bei proble­matischen ÖNORMEN müssen wir noch viel mehr hinschauen, wie das Beispiel der Gebäudereiniger zeigt. Denn was passiert, wenn eine Arbeits­kraft die auf diese Art verankerte Leistung, in Fläche pro Zeiteinheit, nicht erbringt, weil sie langsamer oder genauer arbeitet?


Warum Normung für Gewerk­schaften wichtig ist, steht im Mittelpunkt einer Veran­stal­tung im Herbst. Dabei werden Ansätze für die Betei­ligung der Sozial­partner:innen an Nor­mungs­prozessen präsen­tiert.


Susanne Wixforth: Ein Fallbeispiel wird sich mit der Luft­qualität in Flugzeugen und dem ge­werk­schaftlichen Ein­fluss befassen, ein anderes mit Friseur:innen-Hand­schuhen, die mit den Sozial­partner:innen entwickelt wurden. Besser gemein­sam regeln und mitwirken, als gar nicht im Gremium sitzen – das ist die Devise. Die Gewerk­schaft hat zugestimmt, die erwähnte Norm beim Reinigungs­personal in den KV zu übernehmen, weil es sonst gar keine Standards gibt. Der Konflikt zwischen „Privatnorm“ und demokratisch zustande gekommenem Arbeits­recht bleibt jedoch.

Es ist doch gut, gemein­same Standards zu haben, oder nicht?

Susanne Wixforth: So wird es argumen­tiert aus wirt­schaftlicher Sicht. Natürlich ist es aus Sicht der Konsument:innen ebenfalls ein Vorteil, in Italien das selbe Kabel und den selben Stecker verwenden zu können wie in Österreich. In Wahr­heit ist aber der zweite Grund: Große Unternehmen, die sich für eine Norm einsetzen, wollen, dass genau ihre Technik Standard wird. Um Wettbewerbsvorteile zu haben. Damit hat man nicht erreicht, was man angeblich möchte, nämlich den vereinfachten Zugang und die einheitliche Qualität. Für uns stehen arbeits­rechtliche und wett­bewerbs­rechtliche Bedenken im Fokus. Die kleinen Unternehmen – und damit ihre Beschäftigten – sind dadurch zusätzlich benachteiligt, weil sie vor allem bei Groß­aufträgen, wo teure Normen erfüllt werden müssen, das Nachsehen haben.


Was können Arbeitnehmer­vertreter:innen tun?

Susanne Wixforth: Zuerst erfassen, mit Hilfe der Betriebsrät:innen, welche Bereiche von Normung betroffen sind. Und den Normungs­beirat verstärkt nutzen; er bestimmt ja die strategische Ausrichtung für das ASI. Auch die EU-Kommission hat gemerkt, dass ihr durch Normung immer mehr Handlungs­spielraum genommen wird. Deshalb hat sie in ihre neue Normungs­strategie eine stärkere Stakeholder-Beteiligung auf­genommen. 

Aus all diesen Gründen ist für uns die Kooperation mit den Betriebsräten so immens wichtig. Weil sie möglicherweise im eigenen Unternehmen erfahren, wo eine Norm geplant ist, die die Betriebs­abläufe, Fragen des Gesund­heitsschutzes oder gar Arbeits­zeit oder Ent­lohnung betrifft. Damit wir auch aus dem konkreten Betriebs­alltag Informationen und Rück­koppelung bekommen. Dann können wir unsere Bedenken im Normungs­beirat einbringen. Selbst wenn wir überstimmt werden, nimmt das ASI den Widerstand durch die Stakeholder doch relativ ernst. In letzter Konsequenz könnten wir sogar eine Schlichtungs­stelle anrufen. So gesehen ist unsere Aufgabe: Kontrolle der Normen und Zurückholung ins Recht.


Veranstaltungstipp

Tipp Symbolbild © AK Wien

Normung – Warum sie für Gewerkschaften wichtig ist

24.11.2023, 8:30 - 15:30
im Haus der Austrian Standards International (ASI)
Heinestraße 38, 1020 Wien

ODER via Zoom:

Hier kannst du dich anmelden.

Bei Rückfragen wende dich gerne an:
susanne.wixforth@akwien.at und julia.vazny@akwien.at

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